Übersetzung aus «Mylène Farmer – Mystérieuse sylphide» von David Marguet, © Editions la Mascara, 2000
(Übersetzung durch Peter Marwitz)
Prélude-Bild

Auftakt

«Die Bühne ist ein einzigartiger Augenblick. Auf der Bühne konzentriert man all seine Emotionen, all seine Zustände, alle Elemente, die seit 15 Jahren mein Leben ausmachen. Es gibt hier viele Freuden und viele Leiden. Ich weiß nicht immer wirklich, wer mein Publikum ist. Was uns vereint sind die starken Gefühle.»



1989 betritt Mylène zum ersten Mal in ihrem Leben die Bühne. Fünf Jahre nach ihrer ersten Single, Maman a tort, hat sie sich für den „Palais des Sports“ in Paris entschieden, bevor sie sich auf eine sehr lange Tournee durch Frankreich, die Schweiz und Belgien macht. Mylène durchdenkt und überdenkt ihre Show, die sie sich spektakulär und theatralisch wünscht. Die ganze Welt erwartet sie am Wendepunkt, weil «sie niemals für ihre (gute) Stimme bekannt war», aber vom Moment des Betretens des Saals an ist das Publikum verdutzt/verblüfft.Ein Bühnenbild aus Grabsteinen tritt hinter einem Friedhofstor hervor, das ein Mönch aufschließen wird. Dann öffnet sich die Höhle des Teufels zu den Baudelairschen Klängen von L’horloge. Es schließt sich eine unberechenbare Folge von Hits an, sowohl in den Choreographien wie auch den Haltungen genauso minutiös ausgefeilt wie ihre Clips: Sans logique, Pourvu qu’elles soient douces, Sans contrafaçon, Ainsi soit je, Libertine... Sie ist die erste französische Künstlerin, die Bercy ausverkauft hat, das muß man ebenfalls hervorheben! Die Realisierung der Kostüme wurde Thierry Mugler anvertraut und das Spiel der Lichter Rouveyrollis. Ein wahres Meisterwerk, dessen Atmosphäre die der romantischen Malerei, wie z.B. Caspar David Friedrich, widerspiegelt, eine zeitlose Anziehungskraft von Ruinen und ihren Geheimnissen, ein Verlangen, die Nacht und den Tod zu streifen, in einer Welt aus Stille und Finsternis...

«Eine Show soll etwas Einzigartiges sein... Die Begegnung mit der Bühne war für mich die stärkste Entdeckung meines Lebens.Wie eine erste Liebe. Das gibt es nicht noch einmal...» gesteht Mylène. Umgeben von acht Tänzern, aber auch von Carole Fredericks und Beckie Bell, ihren beiden Backgroundsängerinnen, bereitet sie ihre Show fleißig vor. Sophie Tellier, die ewige Rivalin von Libertine, hilft ihr bei der Umsetzung ihrer Choreographien, und Hervé Lewis, der Trainer der Stars, kümmert sich darum, sie in Form zu bringen. Die Tournee ist praktisch ausverkauft, das Publikum will Mylène zurück! À quoi je sers... und La veuve noire entstehen aus dieser zerreißenden Leidenschaft, zwei Texte, in denen Mylène sich entblößt: «Sieh diese schwarze Dame, die Stunde hat geschlagen! Du wirst diese Maiennacht zugrunde gehen...»



Live à Bercy markiert einen wichtigen Abschnitt im Leben von Mylène Farmer, weil es der zweite Beweis für ihre Wiedergeburt nach ihrer Anamorphose ist. Nach mehr als sieben Jahren des Wartens entscheidet sich die Künstlerin schließlich, auf die Bühne zurückzukehren und ein weiteres Mal ihrem Publikum gegenüberzutreten. Vorbei die makabren Bühnendekorationen aus Grabsteinen und grimmigen Toren, Bühne frei für High-Tech und pyrotechnische Effekte! Die sanfte Libertine ist zur psychedelischen Puppe geworden, das Schwarz hat dem Weiß Platz gemacht, die Tristesse dem Genuß, auf der Bühne zu stehen! «Es ist eine wirkliche Belohnung. Ich empfinde die Bühne mit einem unheimlichen Gefühl der Freiheit. Das ist mein Sauerstoff!» Leider bleibt Mylène diesmal nur wenig Zeit, diese neue Show zu erstellen, nachdem sie das Casting der Tänzer in New York absolviert hat, bittet sie Christophe Danchaud ihr bei der Realisierung der Choreographien zur Seite zu stehen, wie er es bereits zuvor bei einigen Liedern getan hatte. Paco Rabanne wurde angesprochen, um Mylène und die Tänzer einzukleiden. Er verwirklicht würdevolle Anzüge/Kleider für die größten amerikanischen Divas! Der erste Termin der Tour geht in Toulon über die Bühne, zu Ende gehen soll die Tour im Palais-Omnisport in Paris-Bercy. Einige Fans drängeln sich bereits 12 Stunden vor der Öffnung der Tore an den Absperrgitter, bevor sie in den ersten Reihen stehen, die Herzen schlagen höher, sie werden endlich ihr Idol im Angesicht der Bühne sehen! Mylène bietet hier einen Großteil der Titel von ihrem letzten Album Anamorphosée, wie Vertige, California und Comme j’ai mal, aber auch ältere Hits wie Que mon cœur lâche und Sans contrefaçon, wobei sie bei diesem Lied von vier großartigen Drag Queens umgeben ist. Libertine ist ebenfalls umgestaltet worden, und bei Alice gelingt Mylène auf einer gigantischen Spinne sitzend ein vielbeachteter Auftritt aus der Höhe des Saals hinab. Leider bringt ein Unfall alle Pläne des Teams durcheinander. Bei einem ihrer Konzerte in Lyon stürzt Mylène einige Minuten vor dem Ende der Show von einem Tänzer aus dem Gleichgewicht gebracht von der Bühne. Die Menge erstarrt. Sofort in die Notaufnahme gebracht, ist die Diagnose betrüblich: offene Fraktur des Handgelenks und verschiedene Quetschungen/blaue Flecke. Der Rest der Tour wird annuliert, Mylène kann so nicht weitermachen. Nach einigen heilgymnastischen Sitzungen erhält sie schließlich die Bewegungsfähigkeit ihres Handgelenks wieder und kündigt ihre Rückkehr an. Bercy wird wiederum für einen Abend gebucht, Khaled ist für dieses Ereignis eingeladen, genauso wie es bereits einige Tage vorher in Genf der Fall war, und interpretiert im Duett mit Mylène La poupée qui fait non. Sie hat inzwischen nichts mehr zu beweisen, sie ist ein Star geworden und wird es für immer bleiben!


Zum Umschiffen des Caps des neuen Milleniums hat Mylène Farmer sich zum dritten Mal in den inzwischen schon 15 Jahren ihrer Karriere dazu entschlossen, sich ihrem Publikum zu zeigen. Sie nennt diese Tournee die
Mylenium Tour. Die Show ist kolossal, mehr als 100 Millionen Francs (ca. 30 Mio. DM!) wurden hineininvestiert. Laurent Boutonnat ist nicht mehr mit von der Partie, «er hat seinen Weg verfolgt, ich den meinigen...», aber Thierry Suc wacht wie niemand sonst über seinen Schützling. Abgesehen von einer Ausnahme bedient Mylène sich der gleichen Musiker wie 1996. Christophe Danchaud verwirklicht aufs neue einige Choreogaphien, und es ist an Dominique Borg, Mylène mit seinen schönsten Kreationen zu schmücken. Da sie bereits mit den Meistern ihrer Kostüme gearbeitet hat, wußte die Sängerin genau, was sie wünscht und das Ergebnis ist ausdrucksvoll: sechs verschiedene Kostüme, eins schöner und farbiger als das andere! Der „Einmarsch“ auf die Bühne gehört zu den spektakulärsten: Mylène kommt aus dem Kopf einer ägyptischen Göttin, bevor sie durch die Luft schwebt, gehalten von zwei durchsichtigen Fäden. «Als ich Giger [ein Schweizer Künstler] darum bat, sein Werk verwenden und abwandeln zu dürfen, wollte ich eine Ganzheit. Ich habe das Gesicht ersetzt, welches das seiner Frau war, und zwar durch das der Isis, und ich habe Arme hinzugefügt. Ich habe die Isis gewählt, weil sie verschiedene Gesichter hat. Ich habe ein Wesen geschaffen, welches für mich die Mutter der lebendigen Natur ist. Sie erinnert an die vier Naturelemente, sie ist das fünfte.» offenbart Mylène anläßlich eines Interviews, das sie einer Brüsseler Wochenzeitschrift beiihrer Reise durch Belgien gab. Aber die gesamte Show ist nichts anderes als überraschend, sowohl was die Auswahl der Lieder angeht, als auch von der stimmlichen Qualität der Künstlerin her. Mylène entschließt sich dem Publikum sehr unbekannte Titel dazubieten, wie Il n’y a pas d’ailleurs, Mylène is calling oder Dernier sourire. Genauso wie einen ihrer ersten Erfolge Pourvu qu’elle soient douces, dassie in ein «Eighties»-Medley einbindet: Maman a tort, Libertine und das unumgängliche Sans contrefaçon. Aber das ganze Talent und das Gefühl der Künstlerin zeigt sich uns wirklich in Pas le temps de vivre, wo Mylène acapella die Worte singt, die sie einem ihrer Brüder gewidmet hat, der verunglückt ist. «Du siehst ich bin wie das Meer, das sich zurückzieht, deine Schritte nicht zu finden wissend...» Keine falscher Ton wird diese triumphale Tour überschatten, wenn man mal von einigen rechnischen Problemen im Marseille absieht. «In dieser Show, zweifellos mehr als bei den ersten beiden, akzeptiere ich die Vorstellung, daß ich etwas vom Publikum empfangen kann und nicht nur gebe... Wenn ich weine, habe ich die Worte für mich. Das berührt mich, es sind meine Texte. Die Heraufbeschwörung durch diese Worte plus dem Gefühl, das aus dem Blick der Menschen entsteht, bewirken diesen Effekt bei mir. Dieses Konzert ist eine derartige Konzentration von Liebe...»

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Mylène FArmer