Übersetzung aus «Mylène Farmer – Mystérieuse sylphide» von David Marguet, © Editions la Mascara, 2000
(Übersetzung durch Peter Marwitz)
Prélude-Bild

Auftakt

«Das Schreiben ist eine Introspektion, eine Bestätigung und ein Fragezeichen, es ist vielleicht ganz einfach eine Art wahrzunehmen, wie ich bin... Es gibt auf jeden Fall nicht den kleinsten Anflug von Schummelei/Betrug, was die gewählten Themen, die Universen und die Emotionen angeht.»




«Der kleine Mann / Ist eingenickt. / Wie Frucht vom Stamm / Hat man Dich gepflückt. / Dein Kopf geneigt – / Für mich den Blick? In Ferne schweigt / Der schwarze Strick. Den Baum erstiegen, / Den Vögeln gleich, Daß Deine Seele fliege, Höher steigt...Heut Nacht spür ich Schmerz glühn – Hat sich erhängt / In einem Garten Wiens.»
Lebendig Gehäutete ist Mylène eine der wenigen Künstlerinnen, die in ihren Liedern ihre inneren Stürme/ihr Aufgewühltsein offenbaren. Seit dem Beginn ihrer Karriere, verstört sie uns fortwährend mit von Einsamkeit und Traurigkeit getränkten Texten, wie in Jardin de Vienne, wo sie den Verlust eines teuren Wesens beklagt, das als einzige Lösung für sein Leben den Selbstmord fand. «Das fasziniert mich! Es ist ein Akt, den ich als schön, und sicherlich als mutig charakterisieren könnte. In diesem Lied erzähle ich von jemandem, der seinen Selbstmord austattet, in Szene setzt. Das ist romantisch, das ist sogar ästhetisch. Irgendwo habe ich eine selbstmörderische Seele, das ist gleichzeitig eine Angst in bezug auf das Jenseits, aber auch eine Festlegung, der Wunsch „jetzt reicht’s.” zu sagen.»



«Wer richtet Dich? Wer steht dafür? Wer hetzt, Dich auszulöschen, hinter Dir? Ist’s, Dich zu belügen? Ist’s, Dich zu betrügen? Wenn ich erfinde Morgen Dir, die singen, Siehst Du dann dieses Tunnels Schwarz? Kennst Du die Hoffnung, wenn das Licht Dir spricht? Dein Andenken läßt ab nicht eine Stunde, Zu wenden mir das Messer in der Wunde.»
Mit Dernier Sourire beruft sich Mylène aufs Neue auf den Tod eines ihr Nahestehenden, oder vielmehr seine Begleitung ins Jenseits... Dieser Text, dem Publikum wenig bekannt, bleibt einer der bewegendsten ihrer Karriere, weil er Schritt für Schritt die Schmerzen und die Leiden von Geist und Körper eines geliebten Wesens im Angesicht des Todes erzählt.Mylène befreit/entzaubert so ihre Traurigkeit und ihre Ängste gegenüber diesem Unbekannten, gegenüber diesem ewigen Ende... Marie de Hennezel, Psychologin, deren Schriften von der Sängerin sehr geschätzt werden, hat in L’amour ultime (Die ultimative Liebe) Worte von großer Schönheit gefunden: «Man ist nicht mehr derselbe nach dem Tod von jemandem, den man geliebt hat... Die anderen begleiten Sie bis zum Ufer, aber sie setzen nicht über. Man kann indessen hoffen, daß die einem teuren, vor einem gestorbenen Wesen dort sind, um diejenigen, die herüberkommen, zu empfangen.»



«Glühendes Elend, Fieber ergriff Besitz von mir. Ohne zu lachen lach ich, mach ich gleichwas hier. Irrend durch Weiten Fürcht ich die Leere. Ich wende die Seiten – Doch... Seiten der Leere. Doch, mein Gott, warum scheint mir Ich nütze rein zu nichts? Wer sagt in dieser Hölle hier, Was man von uns verlangt – ich nicht! Ich weiß nicht mehr, wozu ich nütz – Ganz zweifellos zu nichts. Schweigen kann ich jetzt, wenn hier Aus allem Ekel spricht...»
Der Existenzialismus, die Angst, nicht das zu finden, für das man auf die Welt gekommen ist, trifft Mylène, als sie zum ersten Mal auf der Bühne triumphiert. Geschrieben in einem alten Haus in der Umgebung von Nizza, markiert A quoi je sers das Ende einer Geschichte, eine umgeblätterte Seite im Leben der Künstlerin. Ihr Leben hat keinen Sinn mehr, die Einsamkeit wird vertraut, alles ist nichts weiter als Öde und Bitterkeit...



«Wenn der Tod ein Mysterium ist, gibt es im Leben keine Zärtlichkeit. Wenn es im Himmel eine Hoelle gibt, wird mich der Himmel erwarten. Sag mir, wie soll man sich festhalten an den Winden, die in entgegengesetzte Richtungen wehen? Nichts hat mehr Sinn. Nichts geht mehr. Alles Chaos ist, nebeneinander. All meine Ideale: zerstörte Worte. Ich suche eine Seele, die mir helfen kann. Ich stamme aus einer ernüchterten Generation. Ernüchtert.»
Désenchantée ist ein Protokoll des Lebens der Künstlerin. Ihre Ängste und ihre Zweifel werden so einem Publikum offenbart, das von dermaßen viel Richtigkeit im Text an der Grenze zur Verzweiflung begeistert ist. Die Furcht vor dem morgen, die Abgründe des Zweifels und des Gequältseins vom Leben sind solche Themen, die Mylène Farmer in den Worten dieses Liedes aufgreift. «Die erste zu sein, die diese Worte formuliert hat, und daß eine Generation sich darin wiederfindet, das ist berauschend.»



«Welchen Schlüssel brauche ich Um Deinen Stern wiederzutreffen Ich bräuchte dort Deine Hand, Um meine Ängste, nicht mehr zu sein als eine ..., Eine nach der anderen zu umarmen/umklammern. / Ich habe nicht die Zeit zu leben Wenn mein Gleichgewicht entschwindet / Ich habe nicht die Zeit zu leben / Liebe mich, komm in mich / Sag mir die Worte, die berauschen / Sag mir, daß sich die Nacht verbirgt/verkleidet / Du siehst, ich bin Wie das Meer, das sich zurückzieht, Deine Schritte nicht zu finden wußte...»
Ihrem Bruder Jean-Loup gewidmet, der in einem tragischen Autounfall ums Leben kam, widerhallt dieses Verschwinden in Pas le temps de vivre. Mylène hat Angst sich allein in der Welt wiederzufinden, verlassen von denen, die sie liebt, fleht sie hier ihren Bruder an, über sie imJenseits zu wachen, für immer an ihrer Seite zu bleiben.



«Kleines Nichts, wenig Stil / Nichts noch zu viel / Kehrt wieder, verlorn, im Bildermeer / Danach· weiß nicht mehr / Älter werden, älter werden / Um nicht zu leiden, sterben / Älter werden, älter werden / Denn es weint ein kleines Mädchen.»
Das Verrinnen der Zeit ist ein Thema, bei dem eine große Zahl von Schriftsteller den Mut, oder die Verzweiflung, hatten, es in ihren Werken zu behandeln. Charles Baudelaire bleibt sicherlich der Künstler, der sich am stärksten mit dieser unausweichlichen Angst des Verfalls auseinandergesetzt hat. Mylène, die gerne zugibt Les Fleurs du Mal (Die Blumen des Bösen gelesen und wieder gelesen zu haben, stürzt sich ebenfalls auf das morbide Thema des Alter(n)s. In Plus grandir fleht sie Gott an, sie nicht altern zu lassen. «Ich glaube, daß das eine Verletzung, eine Vergewaltigung ist, von der Adoleszenz zum Erwachsensein zu gelangen. Wenn man Kind ist, wird einem selbst die „Grausamkeit“ entschuldigt. In dem Moment, wo Ihre Handlungen nicht mehr unschuldig, sondern mit Bedacht/überlegt geschehen, nehmen alle Gegebenheiten einen anderen Schein («habit»).»



«Die Nacht mit ihren so zerbrechlichen Fingern formt die Morgenröte und den Himmel / Gott, wie ist diese Frau schön / Und wenn alt werden mir vergönnt/zugedacht wäre / Wäre ich da, um dich zu lieben (?) / Andere Nächte gehen zu Ende und das Leben hat alles gegeben, alles wieder genommen... / Wenn die Zeit ihr vertrautes Lächeln abgelegt hat / Ist dies ein Schritt hin zum Staub»
Das unerbittliche Herannahen des Todes zeigt sich in den Gedanken von Mylène Farmer ebenfalls wie ein bitterer Geschmack. In Et si viellir m’était conté stellt sie sich als eine alternde Frau vor, deren Kräfte sie verlassen und die feststellt, daß das Ende nahe ist. Die Nacht, der Tod sind die Feinde, gegen die es zu kämpfen gilt, aber «die Zeit ist ein gieriger Spieler, der gewinnt ohne zu schummeln, mit jedem Schlag, das ist das Gesetz!» (L’horloge, Les fleurs du mal, Baudelaire).


Seit dem Beginn ihrer Karriere spricht Mylène in ihren Liedern von Liebe. Verbunden mit dem Leben oder dem Tod ist dies ein wiederkehrendes Thema im Werk der Künstlerin. Ihr erster Titel, Maman a tort, erkundet so die Welt der kindlichen Liebschaften, diese Liebe, der man nicht entsagen kann, solange sie rein und bedingungslos ist.


«Eins – ich bin sehr froh / Zwei – das tat mir gut / Drei – es auszusprechen / Vier – macht Spaß / Fünf – wenn Ma auch meint / Sechs – sie war so schön / Siebn – die Kranknschwester / Acht – lieb ich»
Diese Worte haben mehr als nur eine Person neugierig gemacht, aufgrund ihrer sozusagen sapphischen Seite, aber wenn man ein wenig länger bei dem Sinn dieses Textes verweilt, nimmt man wahr, daß es sich ausschließlich um eine Liebe handelt, die eine Ersatzmutter, die pflegende Krankenschwester, mit einem jungen Mädchen verbindet: eine mütterliche Liebe, von jeglicher sexuellen Nebenbedeutung befreit.


«Blase des Grams / Der Unstetigkeit – Die Zukunft kam Und läßt nur Einsamkeit. (...) Blase des Grams, Der Unstetigkeit – Verwaistes Paar, Entstellt vom Lauf der Zeit. Ich will den Schlaf in Eis, Der Deinen Schemen mich entreißt. Du weiß wohl, daß ich lüg – Du weißt, wie mich der Frost durchglüht.»
Ainsi soit je ruft im Gegensatz dazu die Liebe von zwei enttäuschten Wesen hervor, davongetragen von den Stürmen und der Verwirrung des Lebens.


«Ob man (eines der) Mädchen der Geschichte ist, der seltenen / ob man (eines der) Mädchen der Gehsteigblumen (Huren) ist / Es ist so / Ob man Paul in Pauline ist / Die Titelseiten der Illustrierten ziert / Negativ(e) oder Positiv(e) / Alle Mädchen / Sie brauchen Liebe / Wir brauchen Liebe / Brauchen eine XXL-Liebe / Wir wollen XXL-Liebe»
Nach einer gleichermaßen physischen wie musikalischen Metamorphose erkundet Mylène das Thema der universellen Liebe, diejenige, die uns leben und uns in dieser gemeinen/niederen Welt voranschreiten läßt. Drei Buchstaben genügen der Künstlerin, um die verzehrenden Leidenschaften der Liebe zu umschreiben: XXL.


«Die Engel sind es müde, über uns zu wachen / Lassen uns, wie eine abgetriebene Welt / Ausgesetzt/unterbrochen für die Ewigkeit / Die Welt wie eine Pendeluhr, die stehen geblieben ist / Ich habe geträumt, dass man sich lieben konnte / Im Hauch des Windes erhob sich die Seele, die Menschlichkeit / ihr Mantel aus Blut / Ich werde auf eure Grabmäler spucken / Ist nicht das Wahre, ist nicht das Schöne / Ich habe geträumt, dass man sich lieben konnte»
In Rêver träumt Mylène von einer besseren Welt, wo Frieden und Harmonie regieren. Die menschlichen Verrücktheiten, die Schrecken der Geschichten siegen gleichwohl über diesen süßen/sanften Traum... In einen vorangehenden Schritt drängt die Humanität die zwei verzweifelt zurück (??? «Pour un pas fait en avant, l’Humanité recule désespérément de deux»)! Aberwelch schöneren Traum gibt es im Grunde als den, zu lieben?


«Ich, der ich nicht mehr den Himmel betrachtet habe, Ich habe vor mir diese halboffene Tür, Aber das/der Unbekannte hat mehr als ein Herz getötet / Und seine Schwestern-Seele/schwesterliche Seele / Man hofft darauf, man erwartet es/ihn/sie, man flieht sogar vor ihr/ihm / Aber man liebt / Ich habe nicht gewählt, es zu sein / Aber es ist da, das Sich-Verlieben/Verliebtsein / Die Liebe, vielleicht der Tod / Aber die Zeit für ein Wort (lang) aufzuheben/unterbrechen / Alles dehnt sich aus und überträgt sich auf alles [gibt ab an alles] / Und es ist da, das Sich-Verlieben/Verliebtsein / Sein ganzes Wesen setzt sich bei uns durch/zwingt sich uns auf / Vielleicht endlich ein Echo finden.»
Die ernsthafteste Homage an die Liebe hat Mylène mit ihrem Text zu Innamoramento verfaßt. «Ich wurde von diesem Wort angezogen, weil es Liebe (amor) und Tod (mort) in sich trägt... Viele Dinge, die Teil des Liebesgefühls sind...» Sie veranschaulicht hier dieses seltsame Gefühl der Neigung/Verbeugung, dieses «Glück, vermischt mit Unruhe, weil man sich fragt, ob dieses Gefühl geteilt wird, ein Übergangszustand, der manchmal die Liebe öffnet/zum Ausbruch bringt.» (Le choc amoureux (Der Liebesschock), Francesco Alberoni)





«Spalte den Mond, Küsse von Stacheln und Federn / Gewiegt von einem kleinen Wind zieh ich umher / Das Leben: trüb wie Grenadine-Gläser / Lieben ist Sich-Beugen tränenschwer / Ich, ich bin Libertine / Ich geh auf den Strich / Zerbrechliche Vitrine / Fremde Hand, halt mich / Schlaf auf Deinem Körper ein / Verdampfe ich, Baby, Du schläfst ein / Ich wart auf Sonnenschein / Entziehst Du Dich meinen Lippen, Schmeckt es bitter, Erinnert mich: ich bin im Himmel.»
Mylène Farmer ist eine der wenigen französischen Künstlerinnen, die die Grenzen der Erotik im Schreiben ihrer Texte am höchsten geschoben hat. Sehr wenige Sänger hätten in der Tat die Kühnheit, gewissen Tabus/Verboten wie öffentlich von Sexualität zu sprechen, die Stirn zu bieten. Libertine, auch wenn der Text nicht aus ihrer Feder stammt, ist einer der Hits, mit denen Mylène in die Geschichte eingegangen ist. Die Freuden des Fleisches beschreibend, entstand hier dennoch nicht weniger als eine erstaunliche poetische Delikatesse. Es bleibt jedem selbst überlassen, seine eigenen Metaphern zu finden.


«Kerl! Dein Blick, den Du verteilst, / Ist nicht wenig geil; / Mutter hat Dir’n Po vertrimmt. / Dein Spaß am Revers / Ist kein Stück pervers – Dein Baby ist auch nicht verstimmt / Dein Kamasutra Hat gut hundert Jahr, Mein Gott, aus Omas Zeiten... Das Nonplusultra Ist hier wie da: Liebe einfach beide Seiten. / Du machst alles lächerlich sogleich, Ach, wären sie doch weich.../ Vom Poeten blieb der Kopf Dir voll Planeten, Doch meine Rundung macht Dich stumm!»
In Pourvu qu’elles soient douces treibt Mylène die sexuelle Ergötzung/Lust noch weiter, indem sie offen von Sodomie und Geilheit spricht, ohne deshalb den Bannstrahl der Zensur auf sich zu ziehen. Die Worte sind mit Sorgfalt gewählt, genauso wie die Klänge und die Metaphern werden den Wortspielen vorgezogen, um gewisse, ein wenig schlüpfrige, sogar liederliche/schamlose Ideen hervorzufrufen oder zu suggerieren.


«Ich höre alles, was du gestehst/beichtest, und der Schwarm skandiert die Trunkenheit / ich höre all diejenigen, die du verfluchst, erschöpfen dich, becircen dich: Dies ist „das Âme-stram-gram“ / In mich, in mich, du den ich liebe, sag mir, sag mir, wann es nicht geht / Misch dich ein und gleite/schiebe den Hinterleib/Unterleib / In meine (Mund-)Öffnung (...) / Âme-stram-gram stich, stich mir in die Seel‘ / Gestopft, gestopft von männlichen Schwänzen / Âme-stram-gram stich Dam’n»
Was den Text von L’âme-stram-gram betrifft, so quillt er über vor Anspielungen/Hintergedanken. Sowohl die Klänge als auch die Metaphern beherrschend, bietet Mylène einen Text für vielschichtiges Lesen und Genießen. La philosophie dans le boudoir des Maquis de Sade entlehnt, sind «les nœuds mâles» (die männlichen Schwänze/Knoten) der Beweis, daß Mylène die Kunst der Anzüglichkeit mit Bravour beherrscht.


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Mylène FArmer