Spécial TV

Interview mit Mylène Farmer, 1994 (no. 34)

(Übersetzt von Peter Marwitz, Februar 2000)




Genauso rätselhaft und verwirrend wie immer,
gibt die Sängerin mit «Giorgino» ihr Kino-Debüt

Sie läßt die Clips beiseite, um wirkliches Kino zu machen. In «Giorgino» unternimmt Mylène ihre ersten Schritte vor der verbündeten Kamera ihres untrennbaren Laurent Boutonnat. Wie immer genauso rätselhaft wie verwirrend/aufregend, entdeckt man sie als leidenschaftlich. Geständnisse einer Interpretin, die nicht häufig spricht...

 

Spécial TV: Haben Sie schon lange vom Kino geträumt?

Mylène Farmer: Ich habe es mir gewünscht, seit ich meine Theaterkurse verlassen habe. Laurent hat seinen ersten Spielfilm mit 17 Jahren gemacht. Trptzdem, als wir uns kennengelernt haben, hat er mir zuerst ein Lied vorgeschlagen, und alles hat ineinandergegriffen. Aber im Hintergrund, mit den Clips anstelle «vielsagender/ausdrucksvoller/expressiver» Geduld (?? «"expressive" patience»), haben wir dieses Abenteuer bereits vorbereitet.

Welche Art von Film mochten Sie als kleines Mädchen?

Das berühmte «Bambi»... unvermeidlich! Später dann hat mich «M. le Maudit» fasziniert.

«Giorgino» befaßt sich mit dem Universum der Psychiatrie. Man sagt, daß Sie es gestriffen haben?

Es ist eine Welt, die mich interessiert und die mich anzieht. Es gibt in der Figur der Catherine einen Teil des Irrealen, der mir als Vorwand für mein Verlangen gedient hat, mehr darüber zu erfahren. Ich konnte während eines Vormittags einen spezialisierten Service («service spécialisé») begleiten, und ich war danach von diesen Menschen, die man krank nennt, inspiriert.

Ist die Ambiguität/Doppeldeutigkeit eine Art von Notwendigkeit?

Eine natürliche Neigung, meinen Sie? ... Ich weiß nicht! Ich stelle sie fest, aber ich pflege sie nicht. Ich nähre mich von ihr. Es ist zweifellos eine unfreiwillige Art, die Sache zu versorgen/verpflegen (?? «d’alimenter la chose»). Ich liebe auf jeden Fall das, was ins Geheimnisvolle geht... Daher der Film!

Seine Seite des grausamen Märchens, seine beunruhigende Atmosphäre, die auch ihre Clips begleiten – erweckt das Ihre Ängste oder Ihr Vergnügen?

Ich kann nicht leugnen, daß darin eine Art von Vergnügen liegt. Die Angst ist für mich eine Art, lebendig zu bleiben. In einer mehr als betäubten Welt ist das ausreichend genußvoll.

Was ist Ihnen von Ihren Ängsten der Jugend geblieben?

Ich habe immer Probleme, mich an meine Kindheit zu erinnern. Sicher ist, daß das Schwarz(e) mir Angst gemacht hat. Es hat in mir damals einen völlig idiotischen Reflex hervorgerufen: die Augen zu schließen! Ich leide auch unter dem berühmten "Unter-dem-Bett-Taumel"... Dem «was ist dort in diesem großen leeren Loch?»

War es beruhigend, Ihre Anfänge als Schauspielerin unter der Regie Ihres Quasi-Alter Ego Laurent Boutonnat zu machen?

Zu wissen, daß die Kamera, die Sie filmt, Sie sehr mag, daß sie das beste für Sie will, gibt zwangsläufig Sicherheit, selbst wenn das extreme Einverständnis auch einige Probleme hervorruft.

In dem Film sieht man Sie ein Mal lachen... Sie sind also doch dazu fähig?
(Das dürfte ein ganz heißer Anwärter auf den ersten Preis als «bescheuertste Frage, die man Mylène je gestellt hat» sein... völlig unsachliche Anm. PM)

Der Beweis wäre gemacht (lächelt). Selbstverständlich existiert das Lachen in meinem Leben! Ich habe mir sogar mein Lachen eines kleinen Mädchens bewahrt. Die Jahre haben es nur mit einer Schicht von Zynismus überdeckt und, Stück für Stück, zum... höhnischen Lachen/Kichern verwandelt.

Anererseits bleiben Sie sehr zurückhaltend... Ist es trotzdem wahr, daß Sie, wenn Sie sich entblößen, es tun, um «sich mehr zu mögen»?

Ich glaube, daß man sich durch den positiven Blick des Anderen (l’autre) ein wenig mehr mögen kann.

Auch ohne nackt zu sein, aber mit einem Tröpfchen auf den Lippen oder noch den Daumen im Mund, besitzen Sie die Kunst der Provokation... Beunruhigt Sie die Beunruhigung/Verwirrung?

Gewiß. Es ist besser, begehrt zu werden als dessen Gegenteil, oder? Aber das bleibt ein Spiel. Ganz sicher kein Glaubensbekenntnis.

Auf dem Bildschirm stellen Sie in perfekter Weise den Rausch dar, den des Äthers wie den des Alkohols. Ist der Exzess Ihr Freund?

Ich liebe den Exzess genauso wie ich die Maßlosigkeit mag. Sie sind unverzichtbar für mein Leben. Ich mag den Spalt/Riß/Knick («fêlure») derjenigen, die trinken, so wie eine gewisse Annäherung an den primitiven, animalischen Zustand. Angeheitert zu sein bedeutet häufig, sich von einer schlechten Hülle zu befreien, die einen zu steif erscheinen läßt. Natürlich mißtraue ich der Zerstörung, den nicht zu überspringenden Grenzen und der Ehrfurchtslosigkeit sich selbst gegenüber. Aber ich beanspruche das Recht auf Raserei.

Sie sind mit Luc Besson befreundet und haben einen Affen, der Léon heißt. Steckt ein Geheimnis dahinter?

Nein. Das ist nur Zufall. Ich habe auch einen Affen, der E.T. heißt, und ich kenne Spielberg nicht! (lacht)

Warum leben Sie den Großteil der Zeit in den Vereinigten Staaten?

Ich bevorzuge das Gefühl der großen Ausdehnung, das man dort empfindet. Und außerdem benötige ich häufig Anonymität.

Normalerweise sind Sie sehr still. Für «Giorgino» haben Sie trotzdem einige Interviews akzeptiert. Sind Sie nahe daran, sich Gewalt anzutun, wenn die wirtschaftlichen Interessen Sie schwer belasten?

Ich bin nicht sehr mitteilsam, das ist wahr. Gelassenheit ist nicht meine Stärke, das stimmt auch. Aber ich habe entdeckt, daß ich andere benötige. Ich versuche deshalb, mich ein wenig mehr denjenigen zu offenbaren, die sich wirklich dafür interessieren. Ich weiß trotzdem, daß, wenn die Nacht gekommen ist, ich den Eindruck haben werde, ein wenig geschändet zu sein. Nicht die richtigen Worte gefunden zuhaben.

Wenn man Sie «ohne Fälschung» («sans contrefaçon» ) beschreiben will – um den Titel eines Ihrer Lieder aufzugreifen –, muß man von «Libertine» («Wüstling/liederliches Frauenzimmer...») oder von «Désenchantée» («Ernüchtert/Desillusioniert») sprechen?

Ernüchtert/desillusioniert, ohne den Hauch eines Zweifels. Aber trotz allem... nicht enttäuscht.

Man sagt, daß eine Frau gereift ist, wenn sie den Wunsch nach einem Kind verspürt.

Sagt man das? (Sie zögert.) Ich denke daran... oft... sehr, sehr oft.

Das Interview führte Alain Houstraete-Morel


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Presse 1994