Interview

... mit Mylène Farmer anläßlich des
«Giorgino»-Films, 1994

(Übersetzt von Peter Marwitz, Februar 2000)




«Giorgino» ist ein Wunsch, der endlich realisiert wurde – halten Sie das Kino für wichtiger als die Lieder?

Mylène Farmer: Die Begegnung mit Laurent Bouttonat wurde aus einem gleichen Verlangen heraus geboren: Kino zu machen. Trotzdem haben wir alle beide dank der Musik existiert: ein Geschenk, daß das Leben mir gemacht hat, auch wenn es nicht immer einfach war. Diese Lust, Kino zu machen, diese Lust, einen Film zu drehen, ist im Verlauf von 10 Jahren gereift. 10 Jahre, das ist eine lange Zeit...

Was war Ihr erster Eindruck während der Lektüre des Drehbuchs?

Das Thema von Giorgino hat mich durch seine Fremdheit, seine Originalität angezogen. Um speziell über die Figur von Catherine zu sprechen: ich habe gespürt, daß ich viele Emotionen hineinlegen kann. Ich glaube, daß Laurent sich einiger Dinge meiner Persönlichkeit bedient hat, um die Person von Catherine zu schreiben. Darüber haben wir niemals gesprochen. Ich habe nie wirklich die Magie der Entdeckung des Drehbuchs gekannt, weil ich praktisch 24 Stunden am Tag die Entwicklung dieses Projekts verfolgt habe: ich habe auch die Schwierigkeiten miterlebt, denen Laurent Boutonnat und Gilles Laurent (der Co-Drehbuchautor) begegnet sind, all die Probleme, die zu einem derartigen Projekt gehören. Es ist trotz allem spannend, auch all die Nebensächlichken eines Films zu kennenzulernen. Giorgino war eine schmerzhafte Geburt, aber wir, Laurent und ich, leben in einer solchen Atmosphäre seitdem wir zusammen arbeiten, nichts ist leicht getan. Vielleicht verspüren wir ein bißchen Glück oder vielmehr Erleichterung, wenn wir den Film komplett gehen lassen, d.h. am Tag, an dem er in den Kinos anläuft.

Wer ist Catherine, diese mysteriöse Kind-Frau, von der die Leute sagen, sie sei verrückt?

Catherine ist anders als die anderen und sie zahlt für dieses Anderssein... Es ist vor allem ihre Zerbrechlichkeit, die mich bewegt hat, ich liebe ihre Unschuld und ihre innere Gewalt. Kinder haben das in sich:Naivität, Reinheit und Wut. Ich liebe ihre Unfähigkeit, sich in der Erwachsenenwelt aufzuhalten.

Was sind, Ihrer Meinung nach, Catherines grundlegenden Verletzungen, was hat diese Zerbrechlichkeit hervorgerufen?

Catherine ist intellektuell nicht auf der ihrem Alter entsprechenden Stufe, sie ist kein junges "zurückgebliebenes" Mädchen sondern einfach so, wie es der Pater sagt: «sie hat den Geist eines Kindes». Sie ist von der äußeren Welt isoliert geblieben, vermutlich durch ihre Eltern geschützt, und kümmert sich wiederum um zurückgebliebene Kinder. Für Catherine könnte der Kern ihrer Familie das Schöne repräsentieren, und der Rest der Welt das Häßliche... Catherine ist für die Außenwelt und dessen Gewalt nicht vorbereitet/ausgerüstet... Die Trennung von den Kindern, von ihrer Mutter und schließlich von ihrem Vater sind also Traumatisierungen, irreversible Verletzungen. Und schließlich, ist ein sehr junger Mensch, der fähig ist «Und was, wenn es der Schmerz wäre, der die Vögel singen läßt?» zu sagen, nicht schon hinreichend ausdrucksvoll?

Man hat den Eindruck, daß Sie vollkommen durchdrungen sind von diesem jungen Mädchen. Wie ging die Annäherung an diese merkwürdige Perönlichkeit vor sich?

Ich hatte eine große Freiheit in bezug auf den Charakter von Catherine, das ist seltsam, aber aber es gab keine großen Schwierigkeiten dabei was das Wissen um das Herangehen an diese Rolle anbetraf. Um sich dieser Figur anzunähern hatte ich einfach das Verlangen, mich ein wenig über die Welt der Psychiatrie zu informieren: ich konnte Unterhaltungen zwischen "denen die man krank nennt" und ihren Ärzten beiwohnen, wohl wissend, daß Catherine in einem Zustand sogenannter "Verrücktheit", auf jeden Fall einem Rückzug aus der sogenannten "Realität", schwebt/schwankt. Ich habe zugehört, dann habe ich die "besondere" Gestik beobachtet dieser sehr belasteten, verängstigten Menschen beobachtet, die häufig auch unter Medikamente gesetzt waren... Wenn Sie sagen, daß ich mich für Catherine ihrer bedient bedient habe, so bin ich mir nicht ganz sicher. Ich habe mich ihrer Persönlichkeit während der Lektüre des Drehbuchs angenähert und ich wußte, was ich in diesen Charakter einbringen konnte. Andererseits, ein Kostüm, eine Kulisse und eine Lust jemandenanderen zu verkörpern, sind ebenso wichtige Faktoren, um an eine solche Rolle heranzugehen.

Sie haben sich vorher für autistische Kinder interessiert. Hat Ihnen diese Beobachtung bei der Rolle von Catherine geholfen?

Ob geholfen, weiß ich nicht, aber ich hatte das Verlangen zu verstehen, die Geheimnisse dieser Stille, dieses Rückzugs auf sich, zu durchdringen... Catherine hat eine grundlegende Verwirrung in sich verborgen. Das Verhalten autistischer Kinder macht dermaßen neugierig, ihr Rückzug von der Welt ist unerklärlich, man weiß nicht... Ja, ich hatte vielleicht das Gefühl, ihnen nahe zu sein. Ein gemeinsames Schweigen mit diesen Menschen erscheint mir manchmal eine größere Bereicherung als ein Gespräch...

In Ihrer Interpretation bieten Sie die "Verrücktheit" von Catherine auf sehr subtile Weise dar, die Gesten, die Blicke sind kaum umrissen/flüchtig, intensiv aber ohne Maßlosigkeit, ohne Übertreibung. Die Verwirrung wirkt dadurch viel stärker.

Ich ziehe gemurmelte/geflüsterte Worte den geschrieenen vor. In der Tat mag ich es nicht, aufzudränhen, ich ziehe es vor, vorzuschlagen; das kommt von einer Verschämtheit und einer Schüchternheit, die Teil von mir ist. Das ist meine Persönlichkeit, und mein Spielen empfindet das nach. Andererseits erscheint mir Catherine näher an der "Introvertiertheit" zu sein als dem Gegenteil... ich hatte folglich keine Lust. wenn Catherine unrettbar kippt, dies in Form eines schlagartigen, sichtbaren epileptischen Anfalls darzustellen. In dieser Welt der Erzählung, wo man ständig zwischen dem Wahren und dem Falschen schwankt, dem Realen und dem Irrealen, darf die Lesart nicht zu offensichtlich sein. Die Gegenwart der Wölfe, das vieldeutige Verhalten der Personen... während der ganzen Geschichte weiß man nichts genau, und das macht für mich die Magie des Films aus.

Es muß für einen Schauspieler aufregend sein, sich der Verrücktheit anzunähern...

In der Tat, es ist aufregend, anziehend... Catherine wirkt dermaßen ruhig, fast friedlich, seit dem Moment, wo die sie umgebende Welt keinen Eindruck mehr auf sie macht. Ich habe manchmal das Gefühl – in diesen Momenten der Niedergeschlagenheit – diese Grenze "normal-verrückt" zu streifen, aber das ist dermaßen intim... Kann man von einer Traumatisierung sprechen? ... Alles hängt von dem ab, was man von sich in einer Szene (preis)gibt. Um dazu zu gelangen, extreme Gefühle auszudrücken, muß man aus seinen eigenen Neurosen schöpfen, muß man seine größte Furcht und größten Schmerzen wiederaufkommen lassen. Dann entscheidet man, daß der Charakter, den man darstellt, nicht genau so ist, wie man selbst; in diesem Moment wird der Beruf des Schauspielers spannend/aufregend. Es könnte ein wenig wie die Formung einer Skulptur sein: es gibt das rohe Ausgangsmaterial (das ist man selbst mit seinem persönlichen Universum) und es gibt die Figur, die Schöpfung, die Phantasie – ein wenig von dieser Erde abgehoben, um das hinzuzufügen...

Welche Szenen waren für Sie am schwierigsten zu drehen ?

Es ist jedesmal heikel, seine Gefühle vor fünfzig Leuten (dem Team) auszubreiten. Es ist eine totale Schamlosigkeit, und man haßt sich dafür, aber man wurde dafür engagiert, und das Verlangen zu drehen, zu spielen, behält die Oberhand über den Rest.

Sie stellen gleichwohl dieses Verlangen auf die Probe wenn Sie die Bühne betreten, tausenden von Blicken ausgesetzt!

Das ist ein selbstzerstörerisches Verlangen, das mich beunruhigt. Dennoch fehlt sie mir schrecklich, die Bühne, der Andere (l’autre). Das Paradox des Künstlers ist sehr real: ein neurotisches Verlangen nach dem (Scheinwerfer-)Licht zu haben und gleichzeitig den Wunsch, sich zu verstecken. Ich schwanke dauernd zwischen diesem Verlangen und dem Rückzug. Das eine kann nicht ohne das andere existieren. Das eine nährt das andere (den Anderen)... Der Begriff des Vergnügens erscheint mir total abstrakt. Ich brauche den Blick des Anderen, brauche diese beiden Berufe um zu leben. Ich lehne die Mogelei ab. An dem Tag, wo ich das Gefühl habe, nicht mehr nachempfinden zu können, nicht mehr fähig zu sein, zu geben, würde ich mich auslöschen.

In Giorgino findet man ein Universum, das, so scheint es, sowohl Laurent Boutonnat als auch Ihnen selbst sehr am Herzen liegt? Wie beschreiben Sie diese Vorstellungswelt?

Es ist eine gestörte/unklare und eine verstörende Welt, voller Poesie, wie ich hoffe. Ich teile mit Laurent die Vorliebe für verschneite Landschaften (ich wurde in Kanada geboren). Ich werde angezogen von Beziehungen, schwierigen Gefühlen. Wir beide fühlen uns instinktiv von grausamen Geschichten angezogen, vom Irrationalen. Wir beide lehnen im Innern die Welt der Erwachsenen ab. Ich liebe Tiere, ich liebe Wahnsinn/Verrücktheit, zum Beispiel den zerbrochener Landschaften, wo der Blick nicht ruhig entlangwandern kann. Ich mag auch die permanent treibende Kraft, die Energie ohne mögliche Erholung. Ich liebe all das, was aus Träumen kommt.

Welches sind die Cineasten, die Ihre Phantasie mitgeprägt haben?

David Lean bleibt mein bevorzugter, oder einer meiner bevorzugten Cineasten, die Figur von Catherine hat mich manchmal an die aus «La fille de Ryan» denken lassen. Jane Campion hat mit «Das Piano» ein Meisterwerk geschaffen, ihre ersten Filme sind ebenfalls wunderbar.David Lynch, «Witness» von Peter Weir, ein perfekter Film, das Thema, die Art des Filmens, seine Wahl der Schauspieler, alles... Ich bewundere das Kino von Bergman, ich bewundere Oliver Stone. In einem ganz anderen Genre «Batman II», Steven Spielberg natürlich... und viele andere... Ich liebe ambitionierte Projekte, Regisseure die eine Maßlosigkeit besitzen, eine Verrücktheit wie Kubrick, ich liebe die Verrückten/Wahnsinnigen...

An Literatur mögen Sie Cioran?

Er ist jemand, der sehr gut über «die Unannehmlichkeiten des Seins» schreibt und uns durch seinen Zynismus zum Lachen bringt. Ich liebe seine Selbstverspottung. Alles, was er ausdrückt ist sehr wohl jenseits der Verzweiflung, es ist dermaßen treffend formuliert, grausam ulkig, so gut geschrieben. Er hat alle Poesie, alle Romantik zur «Depression» erhoben, zur «Vernichtung des Seins», was alles noch viel brutaler macht. Er ist auch ein sehr verführerischer Mensch/Mann.

Wie hat Laurent Boutonnat Ihnen Anweisungen gegeben?

Auf dem Set hat er technische Angaben gemacht, was das Spielen anbetrifft, so hat er mir große Freiheit gelassen. Er hat mir punktuelle Hinweise vermittelt. Laurent weiß ein gewisses nützliches Klima zu schaffen, um die Szenen zu spielen. Es gibt eigentlich keine Diskussion über die Figur. Ich habe das Drehbuch gelesen und ich dachte, daß er wüßte, daß ich wüßte, was er sich für Catherine vorstellte. Bei den Dreharbeiten, ging es "Moteur! Action!", und man hat sich hinterher unterhalten. Nach der Aufnahme hat er sein Urteil gegeben, "das geht" oder: "Das ist es überhaupt nicht. Wir machen es nochmal." Das kommt daher, daß wir uns perfekt kennen. Mit den anderen Schauspielern war Laurent geschwätziger, glaube ich...

Welches sind in Ihren Augen die Hauptqualitäten von Laurent Boutonnat?

Seine Maßlosigkeit, seine Wahrnehmung von Gefühlen ganz allgemein. Es gelingt ihm, mit seiner Kamera und seinen Worten die Schwierigkeiten auszudrücken, die man in sich hat. Er ist poetisch. Für mich, die ich diese "Geburt" verfolgt habe, kann ich sagen, daß Laurent auf den Grund, wirklich auf den Grund der Dinge geht. Er arbeitet wie ein Hartnäckiger, er tut es selbstverständlich für sich, aber er lehnt es ab, die Arme sinken zulassen, auch auf die Gefahr hin, den Preis zu zahlen. Ich liebe das. Und dann die Art des Filmens, es gibt nur wenige, die dieses wirkliche Talent haben, diese Meisterschaft... Laurent gehört, glaube ich, zu den wenigen Regisseuren, die niemals gleichgültig lassen.

Was denken Sie über Jeff Dahlgren? Wie waren Ihre Beziehungen während der Dreharbeiten?

Großartig. Die Wahl, die Laurent getroffen hat, erscheint absolut richtig. Es war er und niemand sonst. Ich liebe seine Art zu spielen, sehr sparsam, er hat mich manchmal an James Dean denken lassen;und zudem ist er mein bester Freund geworden.

Was wird Ihre nächste Begegnung mit dem Publikum nach Giorgino sein?

Vermutlich ein Album. Oder vielleicht ein anderer Film. Ich warte, daß der Regisseur seine Kamera beiseite legt, um sich wieder dem Klavier zuzuwenden.

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Presse 1994