Übersetzung aus «Mylène Farmer – Mystérieuse sylphide» von David Marguet, © Editions la Mascara, 2000
(Übersetzung durch Peter Marwitz)
Prélude-Bild

Auftakt

«Ich bekomme eine ganze Menge Briefe, denke ich! Es gibt leidenschaftliche Briefe, erschütternde, die manchmal auch verblüffend sind. Hier, so könnte ich sagen, die Farbe der Menschen, die meine Musik höre, ist... es sind leider Leute, die ein wenig verzweifelt sind (lacht), leicht neurotisch... Es gibt zwei oder drei Leute, die überall dort auftauchen, wo ich eine Fernsehaufzeichnung habe - sie sind da, zu Beginn und am Ende der Sendung, d.h. daß sie gewartet haben, auf dem Bürgersteig, während drei, vier Stunden! Das ist einfach unglaublich!»



ylène Farmer ist die Sängerin, die die größte Leidenschaft des Publikums auf sich zieht. Von ihrem Karrierebeginn bis hin zum heutigen Tage sind ihr viele Fans von den Fernseh- bis zu den Tonstudios gefolgt. Eine Liebe, die ein Fan des Stars wie folgt erklärt: «Sie hat ein spezielles/eigenes Universum, das man einfach bei anderen Künstlern nicht findet. Es gibt eine große Ehrlichkeit in dem, was sie tut, und dann glaube ich, daß es, musikalisch gesprochen, einen ihr eigenen Klang/Ton gibt, Remixe, die immer sehr gut gemacht sind [naja, darüber kann man wahrlich geteilter Meinung sein; Anm. PM...], und außerdem ist sie cool, sie ist ausgesprochen sympathisch, freundlich zu ihren Fans... Es stimmt, daß ich sie seit ihren Anfängen verfolge, an den Fernsehbühnen sitze, daß ich sie seit damals höre/empfange, aber ich glaube nicht, daß man sich diese Explosion in ihrer Karriere vorstellen konnte, als sie 1984 begann. Aber das, was man wahrnehmen konnte, war bereits eine ihr eigene Welt, eine große Entschlossenheit von ihr und den Menschen, die sie umgaben.» In der Tat hat Patrice über hundert Fernsehaufzeichnungen beigewohnt, an denen Mylène teilnahm, er hat ganz Frankreich durchquert, um ihr zu ihren Auftritten nachzureisen. «Zu Beginn ihrer Karriere, in den Jahren 1985–86, in der Phase kurz vor Tristana oder Libertine, war Mylène noch sehr erreichbar, sehr viel zugänglicher als heutzutage... Sie gewährte uns häufig Zutritt zu ihren TV-Auftritten, es genügte, wenn sie uns sah oder wir vor einem Radio- oder Fernsehsender warteten, daß wir ihr ein Zeichen gaben, und sofort sagte sie „Laßt sie herein!“ Sie ließ uns problemlos reinkommen, das war klasse. Ich muß nicht besonders erwähnen, daß das heute, bei ihrem jetzigen Status, nicht mehr passiert.»

Er hat sie dennoch einige Male in Paris getroffen, von denen ein Mal ihn besonders im Gedächtnis haften geblieben ist. «Das geschah bei der Veröffentlichung ihres L’autre...-Albums. Mit zwei odr drei Freunden, kehrte sie offensichtlich von einer Mahlzeit in Begleitung von Luc Besson zurück. Sie kamen zu ihrer Wohnung, es war der Morgen nach ihrem Geburtstag, wir warteten auf der Straße, mit einer Flasche Champagner, Plätzchen und Sektflöten. Sie hielt an, es hat 20 Minuten gedauert, es war 2 Uhr morgens. Diesen Moment werde ich nicht vergessen, denn es gab in dieser Nacht einen richtigen Austausch. Es war nachts, wir tranken Champagner vor ihrem Haus im 8. Arrondissement. Das war toll, weil unerwartet. Sie war überrascht, wir waren ganz alleine mit ihr, das war sympathisch.»

Patrice besitzt auch eine der schönsten Mylène Farmer-Sammlungen: Vinyl, Promos, Kästchen, mehr als einhundert Autogramme... «Dies geschah von Anfang an im Laufe von Gesprächen. Ich denke nicht, daß diese zwei Elemente untrennbar verbunden sind: man kann sehr wohl einen Künstler lieben und ihn gleichzeitig nicht sammeln... Das schönste Stück meiner Sammlung ist, denke ich, die Puppe zu Sans contrefaçon, von Mylène auf meinem Namen gewidmet, weil es ein sehr schönes Objekt ist. Aber genauso der kleine Engel des Clips Plus grandir von 1985, den ich einige Zeit später auf dem Friedhof Saint Denis in Paris gefunden habe.»

Doch es genügt nicht, ein Publikum zu erobern, es gehört auch dazu, daß dieses Publikum einem treu bleibt, und das hat Mylène sehr gut verstanden. In der Tat hat sie es verstanden, sich bei ihrem Voranschreiten Jahr für Jahr immer wieder zu erneuern, und vor allem konnte sie ihre Karriere leiten und ein Universum erschaffen, in dem sich ihre Fans wiederfinden. Indem sie die Wortführerin der Probleme und Verzweiflungen vieler wurde, konnte sie sich zu einem Star der französischen Musikszene entwickeln, an dem man nicht vorbei kommt. «Der wachsende Erfolg von Mylène geht darauf zurück, daß sie eine sehr treue Anhängerschaft hat, die ihr folgt, entweder schon seit vielen Jahren, oder auch welche, die erst dabei sind, sie zu entdecken. Sie sind, denke ich, fasziniert von dem Universum, das sie darstellt.» Aber Mylènes Haupttrumpf ist ihr Image, das sie ihrem Publikum gibt. Tadellose Fotos, mit Sorgfalt ausgewählt, wenn nötig retouchiert, und verwirklicht unter den professionellen Augen eines Claude Gassian (bekannt dafür, die größten Stars unsterblich zu machen), genauso wie André Rau oder Herb Ritts. Und um nicht in eine banale Wiederholung zu verfallen, zerschlug Mylène ihr Image/Bild, indem sie sich von dem großen Peter Lindbergh ablichten ließ. «Was mich bei Mylène Farmer erstaunt hat», sagt er, «war die Schnelligkeit, mit der Vertrauen aufgebaut wurde. Ich habe sie zu Beginn der Session als introvertiert, mißtrauisch erlebt, danach hat sie sich geöffnet. Mit jeder Viertelstunde wurde sie schöner. Sie ist bewegend.» Indem anspruchsvolle, aber nicht gekünstelte Bilder entstehen, erscheint uns Mylène anders, düsterer. Einige Kritiker bezeichnen diesen Hang zur Verwandlung als kommerzielles Kalkül, um ein noch größeres Publikum zu erreichen.

Was soll’s, Mylène ist zum Idol der Jugend geworden und nichts und niemand könnte diesen Mythos ins Wanken bringen. «Sie haben nichts begriffen. Die Spice Girls sind ein Kommerz-Produkt: man macht ein Casting, bringt 500 Mädchen zusammen und nimmt vier oder fünf von ihnen auf der Basis eines Anforderungsprofils, Designs (eine schwarzhaarige, eine blonde, eine rothaarige etc.) Mylène ist absolut nicht so! Sie hat sich (selbst) aufgebaut, sie hat ein Fundament, sie hat eine Karriere, die fortdauert... Mylène ist das absolute Gegenteil dieser gecasteten Gruppen, sie ist keine Modeerscheinung, sie ist zeitlos, ihre Karriere besteht seit 1984 und steigert sich immer weiter, während es sich bei diesen Kommerz-Produkten genau umgekehrt verhält, sie explodieren mit einem ersten großen Hit und danach geht’s bergab», erzählt uns Patrice.

Dank all dieser Liebe, dank all dieser Leidenschaft bleibt Mylène auch der meistgesammelte Star der gesamten französischen Szene. «All das, was meine Musik, meine Worte umgibt, ist ebenfalls sehr wichtig für mich... Genau das, so nehme ich an, macht auch den Unterschied zu anderen Künstlern aus. Ich brauche das, ich habe Lust darauf und ich habe Lust, etwas anderes anzubieten... etwas Zusätzliches.» Und dieses kleine Plus/Mehr sorgt für den Unterschied. Ihre ersten Items werden nachgerade in Gold aufgewogen, genauso wie die Sammlerboxen und die Limited Editions. Einige Stücke sind heutzutage mehr als 8000 Francs (1.300 Euro) wert! Aber das Teil, das die ganze Welt sucht, ist nicht nur das seltenste (25 Exemplare), sondern auch das Wundervollste, das die Schöne jemals verwirklichte. Um die Veröffentlichung und den Erfolg des Albums Ainsi soit je... zu begehen, wurden Kopien der Puppe, die Benoist Lestang für den Clip Sans contrefaçon entwarf, an Medienvertreter verteilt. Diese Marionette ist heute mehr als 25.000 Francs (4.000 Euro) wert! Wir wissen, daß sich die glückliche Besitzer niemals von ihnen trennen werden. Die Picture Discs sind von den Sammlern ebenfalls sehr gefragt, weil sie sehr attraktiv sind. Aber auch hier steigen die Preise stetig an. Diejenige, die alle Sammler anzieht, ist eine Promo zu Beyond my control, die in einer Auflage von nur 50 Exemplaren für NRJ herausgegeben wurde. Wenn Sie sie erwerben möchten, müssen Sie mehr als 8.000 Francs hinblättern. Genauso wie für die berühmte XXL aus geschmiedetem Eisen, ebenfalls eine Promo, die aktuell weit über 3.000 Francs wert ist, oder wie für die Spinne, die der Promotion von Live à Bercy diente, gleichfalls sehr gesucht. Sammeln Sie 5.000 Francs, um zu ihrem glücklichen Besitzer zu werden! Und seit dem großen Comeback mit Innamoramento wird eine ganz besondere Sorgfalt auf die Stücke verwendet, die an die Medien gehen. In mit aus Wachs bestehenden Initialen M.F. versiegelten Umschlägen eingeschlossen, sind die CDs in ein wunderschönes Schmuckkästchen gelegt, so wie das rote Samtfutter für Je te rends ton amour. So begleiten sieben Steine die Promo zu Souviens-toi du jour, jüdisches Symbol der ewigen Erinnerung. «Diese Collectors Items erfordern eine enorme Arbeit und auch sehr viele Mittel, um sie zu realisieren. Aber es ist eine Entscheidung. Es stimmt, daß ich mit der Gestaltung der Sammlerstücke viel Zeit verbringe, obwohl das nicht die Kosten für diese Objekte erklärt, denn das ist mir egal; aber von einem technischen wie von einem qualitativen Standpunkt aus, sind diese Dinge viel Geld wert», erklärt uns Mylène in einem ihrer seltenen Interviews. Die Gier/Nachfrage ist dermaßen groß, daß mehrere Kartons mit den «prestigeträchtigen» Promos» zu Optimistique-moi aus den Räumen von Polydor gestohlen wurden, bevor sie an die verschiedenen Medienvertreten versandt werden konnten. Es wurden Nachforschungen eingeleitet und eine Klage von Polydor und Stuffed Monkey wurde mit Hilfe verschiedener Ankläger eingereicht.

Aber diese Vorliebe für eine Künstlerin kommt bei den Medien häufig schlecht weg. Für sie sind die Fans unheilbare Fälle für den Arzt, «leben nur für und durch ihr Idol»! Welche Sendung hat nicht versucht, dieses Verhalten unter Zurateziehung eines Psychologen zu analysieren? Sicher, es gibt eine Reihe hysterischer Fans, die zu allem bereit sind, um wenigstens ein Autogramm der Künstlerin zu bekommen, aber sich deswegen über ihre Leichtgläubigkeit lustig zu machen, nein! Die Leidenschaft von Patrice hat dazu geführt, seit einigen Jahren auch ein paar skrupellosen Journalisten über den Weg zu laufen. Seine Philosophie in bezug auf diese Ausschweifungen? «Das hat wenig Bedeutung, das ist mir egal. Aber ich glaube, daß es nicht schlecht wäre, Journalisten und Programmmacher gewisser Sender von einem Psychiater untersuchen zu lassen (lacht). Das wäre interessanter als das Verhalten der Fans zu analysieren.»

Falls es noch eines letzten Beweises für den zunehmenden Erfolg von Mylène bedarf, wäre das Mylène Farmer Magazine ein weiterer. Mylène ist der einzige französische Star, über die ein Magazin existiert, das an den Kiosken verkauft wird! Herausgegeben von einem Anhänger der Sängerin und gedruckt in einer Auflage von über 22.000 Exemplaren, ist es nun ein Teil des Farmerschen Mythos.


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Mylène FArmer