Übersetzung aus «Mylène Farmer – Mystérieuse sylphide» von David Marguet, © Editions la Mascara, 2000
(Übersetzung durch Peter Marwitz)
Prélude-Bild

Auftakt

«Sein oder nicht sein... Mein Drama ist das von Hamlet, aber er hatte nicht die Möglichkeit, Platten aufzunehmen... Unter meinen Fingern werden verlorene Momente geboren, von denen ich nicht weiß, zu wem sie zurückführen. Ich empfinde eine gemischte/konfuse Lust bei makabren Zeichnungen, ich liebe die morbide Ästhetik.»


RSeptember 1961. Um 5 Uhr 17 morgens stößt Mylène ihren ersten Schrei aus, umgeben von ihrem Vater Max, ihrer Mutter Marguerite, ihrer großen Schwester Brigitte und ihrem Bruder Jean-Loup (ihr zweiter Bruder, Michel, wird 1969 auf die Welt kommen). Die Kindheit ist eine sehr harte Periode für dieses junge Mädchen, das nicht aufhört, sich Fragen zu stellen über ihre Bestimmung, ihre Erscheinung, aber auch über die Mehrdeutigkeit ihrer Beziehungen zur äußeren Welt. «Ich habe sehr wenige Erinnerungen an meine Kindheit. Ich versuche nicht, eine Figur zu erschaffen, ein Mysterium zu kreieren, es ist nur so, daß ich nicht weiß, wer ich war. Ich weiß lediglich, daß ich keine unglückliche Kindheit hatte und daß es kein Ereignis gab, daß dafür gesorgt hätte, daß ich plötzlich komplett blockiert bin und das ich unbedingt hätte komplett auslöschen müssen.» So versucht Mylène dieses Schwarz über diesem Abschnitt ihres Lebens zu erklären.

Im Jahr 1983 wird alles auf den Kopf gestellt. Mylène macht die Bekanntschaft eines gewissen Laurent Boutonnat, der mit einem Freund – Jerôme Dahan – ein Lied geschrieben hatte, das sie Maman a tort genannt hatten. Nachdem sich Mylène bei dem Casting vorgestellt hat, entscheidet Laurent, daß sie es sein wird und niemand anders. Das ist die Geburtsstunde des Tandems Farmer-Boutonnat! Das Lied ist ein kleiner Erfolg, denn ca. 100.000 Exemplare fanden ihre Abnehmer. Anschließend, nachdem sie Bip be bou rock’n’roll aufgenommen hatte, das für immer im Safe verschlossen bleibt, bringen Myléne und Laurent On est tous des imbéciles heraus – ein ironischer Text über das Künstlerleben –, leider ein totaler Flop in bezug auf die Verkaufszahlen. Danach erschien Plus grandir auf den Sendern, der erste von Mylène geschriebene Text. Sie drückt hierin ihre Angst vor dem Alter, vor dem Verlassen der geschützten Welt der Kindheit im Tausch gegen die grausamere der Erwachsenen aus. Dieses Lied wird von einem prächtigen Clip begleitet, aber das reicht nicht aus. Der Erfolg stellt sich noch nicht ein. Der Moment, wo die Persönlichkeit/Figur beginnt, ernsthaft von sich reden zu machen, ist 1986, beim Erscheinen von Libertine. Dieser aufrührerische Text, getragen von einem wundervollen Clip, kündigt den Anfang einer neuen Ära an. Die Medien drängten sich, um die junge Mylène einzuladen, mehr als 400.000 Exemplare dieses Titels werden in ganz Frankreich verkauft. Einen Monat später erscheint das Album Cendres de lune. Die Atmosphäre darauf ist heiß/ glühend, traurig und finster. Laurent schrieb einige der Texte, wie Chloé und Vieux bouc, Mylène komplettierte das Album mit kleinen Meisterwerken wie Au bout de la nuit oder Tristana. Tristana kommt im Jahr 1987 (als Single) heraus, wiederum begleitet von einem grandiosen Clip. In diesem Kurzfilm erscheint Sophie Tellier ein zweites Mal, nachdem sie bereits eine streitsüchtige Liebende in Libertine gespielt hatte.

Sans contrefaçon erscheint im Herbst 1987. Leidenschaften entfesselnd, öffnet Mylène sich hier total: sie ist die erste Künstlerin, die offen von ihren Problemen in bezug auf ihre Sexualität (sexuelle Ausrichtung?) spricht, indem sie lautstark bekundet, sie sei ein Junge! Dieser Titel, man weiß es bereits, wird die Karriere der Künstlerin für immer prägen. Daher, um diesen Knaller aufs beste abzulösen, entscheiden Mylène und Laurent sich für das herzergreifende Ainsi soit-je... Das Album mit dem gleichen Titel erscheint ungefähr einen Monat später, um einen Erfolg ohne gleichen zu erreichen: mehr als 1.500.000 Exemplare werden abgesetzt. Pourvu qu’elles soient douces wird als dritte Auskopplung vom Album gewählt, und katapulitiert Mylène sofort auf die vorderen Plätze der Top 50, und das für viele Wochen; dies ist die Gelegenheit, um ein weiteres Mal stärker zuzuschlagen, indem dem Publikum die langerwartete Fortsetzung von Libertine als Clip geboten wird. Die Mittel dafür sind kolossal, aber das Spiel wird gewonnen, der Clip ist ein wahres Juwel! Sans logique trägt die schwere Bürde, diesem Hit nachzufolgen, aber es bewältigt diese Herausforderung, indem sich die Single über 250.000 Mal verkauft.

Gekrönt werden die verschiedenen Erfolge von Ainsi soit je... durch Konzerte in ausverkauften Hallen, wobei A quoi je sers... während der Tournee und anschließend noch Allan und Plus grandir in Live-Versionen ausgekoppelt werden. Zusammengenommen finden diese Singles insgesamt annähernd 500.000 Käufer. Mylène entscheidet sich anschließend, in eine totale Stille einzutreten, sich aus dem künstlerischen Leben und der Öffentlichkeit zurückzuziehen, um sich ein wenig Zeit zu widmen, um zu reisen und andere Begegnungen zu machen.

Ihre große Rückkehr behält sie sich für Désenchantée in 1991 vor. Kurze Haare, maskulines Auftreten, sie bietet eine Hymne über die Leiden einer ganzen Generation. Der Einsatz ist groß, aber ein weiteres Mal ist er von Erfolg gekrönt: 1.8 Mio. Exemplare verkauft, ein Rekord! Der Clip wird in den verschneiten Ebenen der Puszta, und nahe Budapest gedreht, wie auch der zu Regrets, der der ersten Auskopplung des L’autre...-Albums folgt. Dieses Duett von Mylène Farmer und Jean-Louis Murat verzaubert die Fans der Schönen. Zum ersten Mal in ihrer Karriere lädt Mylène einen «Fremden» in ihre Welt ein.

«Wir haben uns getroffen und gleich gut verstanden. Sie ist ein besonderes Mädchen. Sie wird als jemand affektiertes wahrgenommen, aber sie ist völlig normal. Ich fühle mich ihrem Universum verbunden.», erklärt diesbezüglich Jean-Louis Murat. Je t’aime mélancolie kommt einige Monate später heraus, begleitet vom Bonustrack Mylène is calling, gefolgt vom sehr kontroversen Beyond my control, dessen Clip sich den Zorn der Zensur zuzieht. Das Ausstrahlungsverbot hat den Verkäufen überhaupt nicht geschadet, die sich auf 250.000 Exemplare belaufen. Um das Jahr abzuschließen, bietet Mylène den Fans ein, oder besser zwei, neue Lieder: Que mon cœeur lâche und die englische Fassung My soul is slashed. In dem von Luc Besson gedrehten Clip verwandelt Mylène sich in einen Engel, der für eine Mission auf die Erde geschickt wird. Eine Teilnahme am Album URGENCES, für das Mylène die Rechte an ihrem Lied Dernier sourire gibt, prägt das Jahr ebenso, denn alle Einnahmen aus den Verkäufen dieses Werkes kommen dem Kampf gegen Aids zugute. Aber ein großes Geheimnis umgibt darauf Laurent Boutonnat, der, nach gewissen Gerüchten, nahe am Abschließen der Dreharbeiten seines zweiten Films nach seiner Ballade de la fée conductrice ist, welcher eher laue Reaktionen zur Zeit seiner Vorstellung in Cannes hervorrief...

Giorgino, der erste Film, in dem Mylène eine Hauptrolle spielte, kam am 5. Oktober 1994 in die Pariser Kinos. Gedreht von Laurent Boutonnat und angekündigt als das Ereignis, das man am Ende dieses Jahres nicht versäumen dürfe, hielt seine Versprechungen nicht, oder besser gesagt, das Publikum erschien nicht so zahlreich wie erwartet. «Er ist wie mein Zwilling. Seine Phantasmen sind die meinigen und umgekehrt. Die Gefahr in dieser Beziehung, wo wir so ähnlich sind, ist die Zerstärung...» Das Tandem wird durch diesen bitteren Flop ins Wanken gebracht/erschüttert, Mylène flieht in die Vereinigten Staaten, um sich dem sehr bedrückenden Pariser Klima zu entziehen.

Anamorphosée ist der Titel des neuen Album, das Mylène während ihres kalifornischen Exils in Los Angeles aufnimmt. XXL ist der erste daraus ausgekoppelte Titel, er läßt uns eine verwandelte Mylène entdecken, verzaubernd und voller Anmut, dem Wind entgegenrufend, daß sie Liebe braucht. L’instant X erscheint am 13. Dezember 1995, danach ist es an California, die Fans des Stars im Jahre 1996 zu verzücken. Mit diesem auf dem Sunset Boulevard gedrehten Clip kehrt Mylène zu filmischen Videos zurück, sie spielt hier zwei «Zwillings»-Prostituierte. Im gleichen Augenblick beginnt sie ihre Tournee. Sie behält Bercy mehrere Abende vor, das Publikum drängelt sich vor den Toren! Comme j’ai mal wird als vierte Single von Anamorphosée ausgewählt. Rêver krönt die „Ausbeutung” dieses Albums, das sich entschieden dem Licht zuwendet, illustriert von wunderbaren Photos des großen Herb Ritts. Live à Bercy erscheint fünf Monate nach dem Ende der Tournee, zwei Titel werden daraus ausgekoppelt: La poupée qui fait non, das sie im Duett mit dem König des Raï, Khaled, singt, und anschließend Ainsi soit je... in einer Version von verstörender Reinheit. Die Videocassette dieser Tour ist eine Mischung aus verschiedenen Auftritten in Bercy, genauso wie ihrer Show in Genf (Schweiz). «Ainsi soit je, ainsi sois tu, ainsi soit ma vie... Merci...» («So soll ich sein, so sollst du sein, so soll mein Leben sein... Danke...» – hier bitte wiederum die Anspielung auf den französischen Begriff für «Amen», nämlich «Ainsi soit-il», beachten; Anm. P.M.).

Mylène erscheint nach einem Jahr der Stille wieder auf der Bildfläche, um 1999 ihr Innamoramento zu präsentieren. Mit gelockten Haaren, zusammengekauert auf einem vom Meer umspülten Käfig sitzend, schafft die Diva ein gewaltiges Comeback. L’âme-stram-gram kündigt die Farbe an, bevor Je te rends ton amour es nicht verfehlt, von sich reden zu machen, dank (... wegen?) des Skandalclips von Fançois Hanss. Mehr als 150.000 Stück werden innerhalb weniger als dreier Monate abgesetzt, mit einem Lied namens Effets secondaires als Bonus. Aber die große Überraschung, die Mylène für ihre Fans vorbereitet, ist ihre große Rückkehr auf die Bühne. Die Mylenium Tour ist nahezu bereit, um Paris-Bercy für vier Abende zu belegen. 80.000 Zuschauer finden sich hier ein, um der Sängerin zuzujubeln. Souviens-toi du jour wird ausgewählt, um die gigantische Tournee zu promoten, der Clip ist das Ebenbild des Liedes: eine Mixtur aus Feuer und Eis. Philippe Salomon ist der neue Fotograf, an den Mylène sich gewendet hat, und diese Zusammenarbeit bringt Bilder von extremer Schönheit hervor, eine lächelnde und reine Mylène. Die Mylenium Tour ist im französischsprachigen Raum in vollem Gange. Zum ersten Mal werden drei zusätzliche Termine in Rußland angesetzt! Gleichzeitig wird Optimistique-moi als vierte Auskopplung des Innamoramento-Albums gewählt, welches sich inzwischen mehr als eine Million Mal verkauft hat. Dieser Song erscheint mit mehrfacher Verspätung, aber wird schließlich Ende Februar 2000 veröffentlicht. Der Clip, von Michael Hausmann in Prag gedreht, knüpft an ihre ersten Inspirationen an: ein filmartiges Video. Die Single steigt direkt nach dem Erscheinen in die oberen Chartpositionen ein, die ganze Welt hatte auf sie gewartet. Mylène triumphiert ebenfalls bei den NRJ Music Awards, wo sie drei Trophäen gewinnt, vor Céline Dion und Lara Fabian. Ihre drei Konzerte in Russland sind ausverkauft, ein neuer Erfolg für Mylène: diese Tour ist die Tour des totalen Gelingens! Sieben lange Monate unterwegs, aber sieben Monate der Emotionen und des Austauschs. «Ich habe märchenhafte Augenblicke durchlebt... Ich habe den schönsten Beruf der Welt, und das dank Euch/Ihnen! Danke...»

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Kapitel 1
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Mylène FArmer