Anmerkungen & Deutungen zu «Je te rends ton amour»
von Peter Marwitz, März-April 2000

Teil 2 von 2


Wirklich deutlich und unübersehbar springt der Bezug von JTRTA zum Bruch mit der Institution Kirche allerdings erst im dazugehörigen „Skandalclip” ins Auge des Betrachters. Dieses Video knüpft von der Qualität, der Tiefe der Bilder, dem verstörenden, irritierenden Faktor (endlich!) wieder an ihre Kurzfilme an, die sie mit Laurent Boutonnat geschaffen hat. Diesmal ist Mylène erstmals komplett für Inhalt und Konzeption des Clips verantwortlich, was sich ganz offensichtlich extrem positiv auf die visuelle Sogkraft der Bilder ausgewirkt hat – kein Vergleich zu den harmlosen, eindimensionalen Clips, die Marcus Nispel für sie vor allem zur «Anamorphosée»-Zeit drehte. Realisiert wurde JTRTA von François Hanss, der bereits in den 80ern an der Seite von Boutonnat mehrmals für die visuelle Umsetzung ihrer Ideen mitverantwortlich war.

Eigentlich wollte ich ja hier nur eine kurze Zusammenfassung des Videos in zwei, drei Sätzen schreiben, doch das erwies sich als schwieriger, als zunächst gedacht. Zu dicht erscheint mir die Symbolik, als daß ich ihr damit gerecht werden könnte. Deswegen bleiben mir nur zwei Auswege aus diesem Dilemma: zum einen die Beschreibung komplett zu kippen und statt dessen auf den Artikel der Zeitschrift
Voici zu verweisen, in dem einige Bilder des Films kommentiert dargeboten werden. Oder andererseits halt eine umfassende Schilderung abzuliefern. Es versteht sich von selbst, daß mir mein krankhafter literarischer Ehrgeiz keine wirkliche Wahl läßt, und ich mich deswegen an einer längeren Beschreibung des Videos versuchen muß...

Zu Beginn des Clips verläßt Mylène, mit einem rot-weiß-gestreiftes Kleid bekleidet, einen Tunnel und geht stolpernd, sich an Bäumen entlangtastend auf eine Kirche zu. Wie nachher im Video deutlicher wird, scheint sie blind zu sein. Nachdem sie die Kirche betreten und sich in einen Beichtstuhl gesetzt hat, sehen wir eine männliche Gestalt in schwarzer Mönchskutte, die nun ebenfalls ins Kircheninnere kommt. Der Mann taucht seine dämonisch wirkende Hand in das Weihwasserbecken, aus dem daraufhin Dampf aussteigt – so, als wenn diese Gestalt direkt aus der Hölle entstammt und deswegen eine starke (innere) Hitze entwickelt. Außerdem löscht er mit einem Handstreich alle auf dem Altar brennenden Kerzen aus und läßt durch den Luftzug seiner Bewegung die Betstühle umfallen. Daraufhin betritt auch er den Beichtstuhl, in dem Mylène, durch das Trenngitter sichtbar, wartet. Sie spürt die Anwesenheit des „Paters” und bekommt einen starren Gesichtsausdruck. Während der Mann sie mit rötlichem, monströsem Auge anschaut, streift Mylène einen (Ehe-)Ring vom Finger und legt ihn auf ihre aufgeschlagene Bibel, die in Blindenschrift verfaßt ist. Dann schiebt sie beides von sich. Nun sehen wir ihre linke Hand, an deren Handgelenk eine blutende Stelle sichtbar wird – das Blut fängt an, die Hand herabzulaufen. (Diese Szene erinnert an Wundmale aus Kreuzigungserzählungen; im Film «Stigmata» wird behauptet, daß bei den damaligen Kreuzigungen die Nägel nicht durch die Handflächen getrieben wurden – die Hände hätten das Gewicht des Körpers nicht gehalten –, sondern durch die handnahmen Unterarme. Genau an dieser Stelle beginnt Mylène im Video zu bluten!) Der „Pater” streckt seine klauenartige Hand durch das Gitter und nähert sich ihrem Gesicht. Ein weiteres Blutrinnsal läuft nun an Mylènes Bein herab (dies läßt an Entjungferung denken). Schließlich greift sich der „Mann” Mylènes Kopf und zieht sie ans Gitter. Sie ist überrascht, wehrt sich vergeblich, reißt dabei einen Vorhang von der Wand.

In diesem Moment fällt in der Kirche eine steinerne Engelsstatue zu Boden und eine große Blutlache strömt aus dem Beichtstuhl, breitet sich in der Folgezeit immer weiter in den Innenraum des Gotteshauses aus. Passend zum musikalischen Bruch und der sich verstärkenden Gitarre im Lied wird die Atmosphäre nun noch düsterer, alptraumartiger. Wir sehen Mylène nackt, mit einem Tuch um die Augen gewickelt (Anspielung auf die Blindheit zu Beginn des Videos?), auf einem Podest sitzen. Wind bläst den Staub vom Kirchenboden und legt damit einen eingelassenen Grabstein mit der Aufschrift „Demonas” frei, wiederum fallen Betstühle zu Boden. Hände (offenbar die des „Paters”) streichen über Mylènes Körper, verschmieren Blut darauf, die sichtbehindernde Binde ist verschwunden. Statt der Christusfigur wie am Anfang des Clips ist nun die nackte Mylène an das Kreuz gebunden und blickt auf die Kirche herab. Der Dämon tunkt seine Hand wiederum ins Weihwasserbecken, das jetzt randvoll mit Blut ist, und verläßt die Abtei ebenso schweigend, wie er gekommen ist. Mylène Farmer bleibt alleine zurück, sie geht jetzt gemessenen Schrittes durch die Blutlache und hockt anschließend im Blut. Diese Szene hat etwas von einer Geburt. Wir sehen eine in ein schwarzes Kleid gehüllte Mylène die Kirche verlassen, mit offenbar deutlich weniger unsichererm, schwankenderem Schritt als noch ganz zu Beginn. Die nackte Mylène befindet sich immer noch in dem Gotteshaus, sie liegt jetzt, wiederum in einer Art Kreuzigungspose auf dem Bauch in der Blutlache. Abschließend sehen wir ihre Hand in Großaufnahme, wie sie den Ring (den selben, der vorhin auf der Bibel landete?) ins Blut legt, in dem sich die an der Wand hängende Christusfigur spiegelt... FIN

Schluck... Ein ganz schönes Pfund, das unsere Mylène dem Zuschauer mit diesem Œuvre vorgesetzt hat. Kein Wunder, daß das bei manchen Leuten Entsetzen & Blasphemievorwürfe hervorrief. Wie kann man ihren Clip nun aber verstehen, wie paßt er mit dem Text zusammen, inwieweit geht er vielleicht sogar über diesen hinaus? ... Gute Frage... Das Video ist auf jeden Fall meiner Meinung nach symbolisch so stark verdichtet, daß es für einen Außenstehenden kaum möglich ist, eine eindeutige, alles umfassende und alleinseligmachende Interpretation zu finden. Doch zumindest ein paar Gedanken dazu möchte ich gerne loswerden...

Die vorhin von mir angesprochene Thematik der Abrechnung mit der (katholischen) Kirche, der Abwendung von Gott, spricht meines Erachtens sehr deutlich aus diesen Bildern. Die christliche Symbolik ist allgegenwärtig, sie bildet den Rahmen für dieses recht makabre Schauspiel. Es gibt eine ganze Reihe von Details, die man als Ohrfeige für die institutionalisierte Religion auffassen kann. So ist die Bibel in Blindenschrift verfaßt – das „Buch der Bücher” wäre demnach ein Leitfaden für Blinde, steht vielleicht für Leute, die gewissen „offensichtlichen” Dingen blind gegenüber stehen, die sich auf die Leitbilder anderer verlassen und die vielleicht gar nicht selbst über ihr Leben entscheiden wollen, für die „Nicht-Denker”, die Lemminge... Mylène streift sich ihren Ring vom Finger und schiebt ihn zusammen mit der Bibel weg – hier wird die Trennung, die Scheidung vom christlichen Glauben angedeutet; eine Nonne ist „mit Gott verlobt” – dieser Bund wird nun von ihr aufgelöst. Einige Male im Laufe des Films wird Mylènes Kopf hinter dem Gitter des Beichtstuhls gezeigt – das läßt sie bereits wie eingesperrt wirken, so als wenn die Regularien des Glaubens ein Gefängnis sind. Bei dem Blut, das aus dem Beichtstuhl fließt, habe ich spontan zuerst an all das Blut gedacht, das die (kath.) Kirche im Laufe der Jahrhunderte bei der zwangsweisen, gewaltsamen Bekehrung der „Ungläubigen” in der ganzen Welt vergossen hat. Da so ein Beichtstuhl dem irdischen Sünder dazu dient, dem Pfarrer seine Verfehlungen zu gestehen und nun ein solches Meer von Blut herausquillt, könnte man den Eindruck bekommen, daß jemand fürwahr eine gewaltige Menge Sünden auf sich geladen hat... (Übrigens hat passenderweise der Papst erst vor kurzem höchstpersönlich für all die Dinge um Verzeihung gebeten, die im Namen der Kirche und des Christentums der Menschheit angetan wurden. Bißchen späte Einsicht, aber immerhin...)

Daß an der Stelle des Pfarrers, des Paters (hier scheint der „Vater”, auch „Gott” durch) eine dämonenartige Gestalt sitzt, könnte man natürlich ebenfalls als gallige Kritik auffassen. Auffällig ist, daß der „Pater” genau in dem Moment Macht über Mylène Farmer gewinnt, wo sie die Bibel und den Ring von sich weist und das blutende Wundmal an ihrer Hand entsteht. Leider bin ich in christlicher Symbolik nun gar nicht bewandert, sonst könnte ich hier sicher einiges hinein- bzw. herauslesen. Das Wundmal soll vermutlich Assoziationen an eine Kreuzigung wecken, an eine märtyrerartige Opferung und damit also auch an ein an ihr begangenes Verbrechen. Es bleibt für mich offen, ob nun die Kirche als Täter gesehen wird oder eher „die Mächte der Finsternis”, die sich im Laufe des Clips offenbaren. Mit dem Eingriff des „Pater-Dämons“ verliert Mylène ihre Unschuld, ihre Jungfräulichkeit (angedeutet durch das Blut, das an ihrem Bein herabrinnt) – die Welt wird für sie nie mehr so sein, wie zuvor. Eher zufällig habe ich bei der Formulierung meiner Clipbeschreibung übrigens auch noch eine andere Kleinigkeit entdeckt, nämlich, daß Mylène ans Kreuz gebunden «auf die Kirche herab sieht», was bei Licht betrachtet eine ungewollt doppeldeutige Formulierung darstellt... Und wo andere ihre Hände in Unschuld waschen, wäscht sie der teuflische Pfarrer am Ende in Blut... Als Mylène, nun schwarz gekleidet, die Abtei verläßt, wirkt sie sicherer, sie stolpert nicht mehr, sie scheint Vertrauen (in sich) gefunden zu haben, nachdem sie die Verbindung zur Kirche gelöst hat.

Selbstverständlich habe ich mit diesem bestechenden Gestammel bestenfalls einen Deutungsansatz gegeben. Man kann den Clip auch auf andere Weise sehen (siehe Voici-Artikel), beispielsweise ist die Vermengung der Dimensionen „Gut” und „Böse” unübersehbar. Der Böse befindet sich hier in der Rolle, die sonst die (vermeintlich) „Guten” – die Priester etc. – inne haben. Im Beichtstuhl findet eine durch die Architektur desselbigen aufgezwungene Zweiteilung der Welt (Gut/Böse) statt, man kann nur durch ein Gitter einen vagen Eindruck von dem gewinnen, was sich auf der anderen, der „bösen” Seite befindet. Möglicherweise ist dies auch innerpsychisch zu vestehen, eine Anspielung auf die dunklen Seiten in jedem Menschen, denen man oft blind gegenüber steht (Mylène ist zu Beginn des Videos ja blind, sieht den Dämon nicht, spürt, ahnt dessen Anwesenheit nur), die aber dennoch latent vorhanden sind und bloß darauf warten, in einem schwachen Moment, in Augenblicken des Umbruchs oder der persönlichen Rückschläge, plötzlich Einfluß auf das eigene Leben gewinnen können. Nachdem diese inneren Abgründe ihre Macht auf den sonst geschützten Persönlichkeitsteil ausgeweitet haben, zeigt das Video einige der privatimen, sexuell getönten Fantasien der Hauptfigur, die sonst für gewöhnlich eher unterdrückt werden. Interessanterweise schließt sich an dieses Ausleben des inneren Verlangens eine Art Wiedergeburt an – die Szene, in der Mylène durch die Blutlache watet (die «aufrechte nackte Frau» aus dem Text findet hier ihre visuelle Umsetzung) und nachher kniet, erinnert in ihrer Blutigkeit an eine Geburt. So entsteht ein neues, gereinigtes Ich aus dem Blut, das aus ihrer Auseinandersetzung mit dem festgefügten Glauben und den inneren Dämonen entstanden ist. Von daher kann das Blut also auch aus inneren Verletzungen, aus innerer Zerrissenheit (siehe Egon Schiele), aus inneren Konflikten entsprungen sein. Das möge als Denkanstoß erst einmal genügen. Machen Sie sich doch gefälligst Ihre eigenen Gedanken! :-)

Zum Schluß gibt es bei «Je te rends ton amour» noch ein weiteres Detail, das nicht unerwähnt bleiben soll – neben dem Abdruck des Liedtextes im CD-Booklet finden wir zwei Briefmarken. Da ich davon ausgehe, daß die Gestaltung der CD diesmal nicht nur dekorativen Zwecken dient, habe ich eine Lupe aus der Schublade gekramt und mir die beiden darauf abgebildeten Herren einmal näher angeschaut. Und siehe da – mit ein wenig Augenverrenken und der Zuhilfenahme aller verfügbaren Lexika und Erinnerungsfragmente kann man darauf kommen, daß es sich beim oberen um Heinrich VIII. und beim unteren um Karl V. handelt. Beide hatten auch ihre ganz speziellen Fehden mit der römisch-katholischen Kirche ausgefochten (vielleicht hat Mylène sie deshalb hier angeführt?), und durch beide Lebensläufe ziehen sich wie ein roter Faden die fürs Herrschen im 16. Jahrhundert üblichen Ströme von Blut – Karl V. plünderte beispielsweise 1527 Rom; ging gleichzeitig rücksichtslos gegen die Protestanten vor.

In der «Weltgeschichte in Bildern» (Bd. 11, Editions Rencontre Lausanne, 1969) stieß ich dann noch auf folgende bezeichnenden Ausführungen, die uns die, nun ja, „schillernde” Persönlichkeit von Heinrich VIII. näherbringen...:

„Anglikanisches Schisma – Manche weigerten sich indes, den Treueeid [für den König] zu leisten und auf den katholischen Glauben zu verzichten. Die Antwort [von Heinrich VIII] ließ nicht lange auf sich warten und lautete: Terror! [Thomas] More wurde 1535 enthauptet.

(...) Aber auch die Protestanten unterlagen der Verfolgung [wie die Katholiken], weil Heinrich VIII die Lehren von Luther mißbilligte und unbedingt einen „nationalen Katholizismus“ einführen wollte. So wurden auch sie auf den Scheiterhaufen geschleppt […]. 1539 ließ Heinrich VIII noch die „6 Artikel“ vom Parlament verabschieden, die auch „Blutbill“ oder „Sechsschwänzige Peitsche“ genannt wurden.

(...) Die Scheidung wurde durch das Beil des Henkers vollzogen.»


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