Anmerkungen & Deutungen zu «Je te rends ton amour»
von Peter Marwitz, März-April 2000

Teil 1 von 2


«Je te rends ton amour» ist die zweite Single vom Innamoramento-Album, eines meiner absoluten Lieblingslieder von Mylène und besticht bei näherem Hinsehen durch den ausgesprochen komplexen, sehr persönlich wirkenden Text. Bereits die erste Strophe («Ich sah die Feuerstelle / All diese Unbekannten / Dich mitten zwischen ihnen») läßt an die Schilderung von Traumbildern denken und macht das ganze Lied damit für einen Außenstehenden reichlich verschlüsselt und schwer zugänglich. Ich würde mich sogar zu der Behauptung versteigen, daß JTRTA eines der bisher schwierigsten Gedichte von Mylène Farmer ist. Aber tapfer, wie ich nun mal nicht bin, will ich versuchen, trotzdem ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen... :-) Mindestens drei Ebenen bzw. Grundelemente spielen im Text eine Rolle – zwei davon hat Mylène in einem Interview sogar höchstpersönlich angesprochen: «Das Lied kann eine Liebesgeschichte sein oder eine Geschichte über die Abwendung von Gott...» Hinzu tritt auch noch die Anspielung auf den österreichischen Maler Egon Schiele, dessen Signatur am Ende des Liedes im Booklet abgedruckt ist. In Anlehnung daran wurde übrigens auch der Titel auf dem Single-Cover gestaltet. Gerade durch diese Referenz erhält das Lied meines Erachtens seine persönliche, mysteriöse Dichte. Mylène Farmers Vorliebe für Schiele ist nicht neu – bereits 1991 äußerte sie sich im Interview mit der Zeitschrift Madame Figaro über ihre Beziehung zu seinem Leben und Werk:

«Ich öffne mich vorsichtig, instinktiv der modernen und zeitgenössischen Kunst. Ich liebe die abstrakte Malerei, weil ich darin sehen kann, was ich will: man schreibt mir nichts vor. Es ist damit zu vergleichen, sich in jemanden zu verlieben: man weiß nicht, wer dieser „Andere” („l’Autre”) wirklich ist, aber man hat schlagartig das Verlangen, ihn zu kennen, sein Geheimnis zu durchdringen, wohl wissend, daß einem das niemals vollständig gelingen wird... Die Malerei ist eine Vergewaltigung; man öffnet sich ihr oder nicht; dann verwandelt sich die Vergewaltigung in Liebe, es ist wunderbar. Ich liebe auch leidenschaftlich die Malerei von Egon Schiele. Ich hätte eines seiner Modelle sein können. Wenn ich mich in einem Spiegel betrachte, habe ich manchmal den Eindruck, eine seiner wundgescheuerten Rothaarigen zu sein. Er hat alles verstanden, bis hin zu seiner Art, die Gemälde zu signieren. Er trägt unaufhörlich eine Mischung aus Leben und Tod in sich, als wenn er sich bewußt gewesen wäre, mit 28 Jahren zu verschwinden. Malerei faßt den wahren Wahnsinn zusammen, die intimste Aufregung/Schwärmerei. Merkwürdigerweise habe ich etwas von dieser kreativen Überschwenglichkeit in meinem Geist erkannt, als ich vor zwei Jahren zum ersten Mal auf die Bühne gegangen bin. Es war die schönste Erfahrung meines Lebens. Und gleichzeitig die destabilisierendste. Aber die Worte bleiben für mich das Wesentliche. Meine Lieder zu schreiben ist meine Art zu leben. Vielleicht, weil ich in meinen Texten nur von mir selbst spreche. Das ist die Egozentrik des Künstlers...»

Damit beginnt sich der erste Nebel ein ganz klein wenig zu lichten – die Zeilen «„Die nackte aufrechte Frau”» und «Ein Akt von Meisterhand» scheinen sich direkt darauf zu beziehen, daß Mylène sich zuweilen wie ein Modell von Egon Schiele empfindet. Möglicherweise ist „Die nackte aufrechte Frau” auch konkret der Titel eines von Schieles Bildern; zumindest haben seine Werke oft Namen, die ähnlich aufgebaut sind: „Kniender Halbakt nach links gebeugt”, „Stehender männlicher Akt”, „Zwei Frauen”, „Kauernder Mädchenakt”. Wer aber ist nun eigentlich dieser Egon Schiele? Der früher obligatorische Griff zum Großen Brockhaus wird heutzutage bekanntlich durch den Klick ins Internet ersetzt, und so stieß ich dort auf diese weiterführenden Informationen...:

«Auch 80 Jahre nach seinem Tod ist Egon Schieles direkter Zugang zu zentralen Bereichen unseres Lebens, Erotik, Sexualität und Tod, aufreizend. Seine Werke sind schonungslos und obsessiv. Sie gehen keine Kompromisse ein. Diese Haltung macht einen großen Teil ihrer international in höchstem Maße geschätzten Qualität aus. Der österreichische Expressionismus hat mit Egon Schiele Weltgeltung erlangt.»
Quelle:
http://www.stmk.gv.at/verwaltung/lmj-ng/97/schiele/schiele.html

«Schiele war neben Oskar Kokoschka der zweite bedeutende Maler, der sich aus dem Einflußbereich der vom Jugendstil, aber auch von symbolistischen Elementen geprägten Wiener Secession löste und zu einem erregenden Stil mit expressiven und realistischen Komponenten fand. So schuf der anfänglich von Gustav Klimt beeinflußte Künstler Aquarelle, Zeichnungen und Ölbilder, in deren Zentrum der männliche und weibliche Akt sowie viele Selbstbildnisse stehen. Die Dargestellten werden in schonungsloser Deformation und mit übersteigerten Emotionen gezeigt (z.B. „Selbstporträt, eine Grimasse schneidend“, 1910, Wien, Sammlung Rudolf Leipold) oder klammern sich in erotischer Ekstase aneinander (z.B. „Umarmung“, 1917, Wien, Österreichische Galerie). In eckigen, mageren Gestalten mit knotigen Muskeln und hervortretenden Knochen, teilweise mit stark abstrahierten Zügen, bricht sich Schieles Lebenspessimismus Bahn.
Daneben entstanden ornamentalisierte Bildnisse, Stilleben und Landschaften, teilweise bis zur Abstraktion vorstoßend, weiter figurale Darstellungen unter dem Einfluß E. Munchs sowie stilisierte Stadtansichten. In ihrer Überwindung aller tradierten Stile und der bis dahin wohl nur von H. de Toulouse-Lautrec und E. Degas erreichten Unmittelbarkeit des Ausdrucks sowie dem sicheren Strich waren Schieles Zeichnungen mit Aktstudien und Porträts für die weitere Entwicklung der Malerei folgenreich.»
Quelle: http://www.museumonline.at/1996/schulen/pinka/schiele.htm

«1890 in Tulln bei Wien geboren, studierte Schiele von 1906-1909 an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Durch Hodler und Klimt, mit dem ihn eine starke künstlerische Vater-Sohn-Beziehung verband, wird sein künstlerisches Schaffen stark beeinflußt. Er wendet sich von den Sezessionisten bald ab, hin zum Expressionismus.
Die Expressionisten vermieden die objektive Weltdarstellung, sie bevorzugten die subjektive Ausdrucksweise, veränderten die natürlichen Maßverhältnisse und stellten ihre individuelle seelische Erlebniswelt dar. So ist aus Schieles Bildern immer wieder seine innere krankhafte Zerissenheit sowie die allgemein spürbare Untergangsstimmung im Kaiserreich erkennbar.
Erst seine Frau, die er 1915 ehelichte, sowie die Vorfreude auf sein Kind bewirkten, daß sein Stil ruhiger, weniger gestikulierend wird. Im März 1918 brachte ihm eine große Ausstellung seiner Werke in der Wiener Sezession den ganz großen künstlerischen und auch finanziellen Erfolg. Nur ein halbes Jahr später, im September 1918, verstarben er und seine schwangere Frau an den Folgen der Spanischen Grippe.»
Quelle: http://www.its.at/linz/kultur/museum/html/ngalerie/schiele1.htm


Auf nachfolgender Website findet Ihr übrigens noch eine ganze Reihe weiterer Bilder von Egon Schiele:
http://www.rzeszow.medianet.pl/~anetah/art/schiele_egon.htm


Schon seit jeher war Mylène Farmer fasziniert von extremen Künstlern, die zu ihrer Zeit oftmals unverstanden waren und ein (kurzes) leidvolles Leben hatten, wobei diese aus ihren Leiden oft gerade ihre besondere kreative Energie schöpften: E.A. Poe, Baudelaire, Kafka, Primo Levi, Frances Farmer.... Und nun Egon Schiele. Mal sehen, ob uns diese Zusatzinformationen dabei helfen, «Je te rends ton amour» etwas mehr zu durchschauen... Ich denke, daß man die komplette zweite Strophe («Gemälde/Gewebe // Faser, die Quetschungen/Flecken // durchsickern läßt // Du hast die Seele gesehen // Aber ich sah Deine Hand // Gauguin wählen») als eine Aussage über Schiele deuten kann. Das «toile», das Gewebe oder Gemälde könnte die Leinwand darstellen, auf der er seine Bilder gemalt hat. Dieses Leinen ließ die inneren Verletzungen, «Quetschungen», die «krankhafte Zerrissenheit» des Künstlers durchscheinen, da seine Gemälde seine Seelenpein ausdrückten, darstellten, sichtbar machten. Gerade dadurch, daß sich Schiele für seine Kunst so intensiv mit sich selbst beschäftigte, tief in sich selbst hineinschaute, wird er – so die vierte Zeile dieser Liedstrophe – seiner „Seele”, seinem „wahren Selbst” sicher näher gekommen sein als der einfach so vor sich hin lebende Normalbürger.

In der fünften und sechsten Zeile folgt ein Verweis auf einen weiteren Maler – auf Gauguin. Da ich unser Kompendium nicht (noch mehr) zu einem Lexikon ausarten lassen möchte, will ich zu diesem Künstler nur ganz kurz etwas anmerken, soweit es für das Verständnis des Liedes hilfreich sein könnte. Paul Gauguin war ein französischer Maler des 19. Jahrhunderts, der auf der Flucht vor der «zivilisatorischen Last» in die Südsee auswanderte, wo er im Laufe der Jahre seinen besonderen Malstil entwickelte. «Er erweckt in der Farbe eine emotionale Ausdruckskraft, wie diese kein Beispiel in der Kunst vor ihm hat. Gauguin beruhigt die Form, vereinfacht sie und steigert mit ihr die Glut der Farben. Daß Farben „seelische“ Bedeutung haben und die Welt auch ohne wortreiche Erklärungen interpretieren können, hat die Entwicklung der Malerei nachhaltig beeinflußt. (...) Vor allem die Expressionisten sollten sich später auf seine Kunst beziehen.» (Zitat Internet) Möglicherweise spielen Mylènes Zeilen «Ich sah Deine Hand / Gauguin wählen» genau auf diesen „kunsthistorischen” Zusammenhang zwischen Gauguin und den späteren Expressionisten, zu denen ja auch Schiele zählte, an. In dieser Formulierung könnte auch der Hinweis auf einen Verrat, das Fallengelassenwerden durch Gott liegen: „Du hast die, d.h. in meine Seele gesehen, dich aber für einen anderen (Gauguin) entschieden.” Trotzdem ist mir die Bedeutung, die diese Strophe für das gesamte Lied hat, eher unklar. Im Lied tauchen übrigens auch noch ein paar weitere Begriffe auf, die sich auf den Bereich der Malerei beziehen, nämlich «Rahmen», «Konturen», «Akt» und «verwässerte Farben».

Das wichtigste Thema von «Je te rends ton amour» scheint für mich jedoch «die Abwendung von Gott», hier auch eine Abwendung von der Institution der (katholischen) Kirche zu sein – ein Thema, das Mylène Farmer und Laurent Boutonnat seit Beginn ihrer Karriere verfolgt und mit dem sie sich im Laufe der Jahre in vielfältiger Art auseinandergesetzt haben. Diese Kritik an Religion & Kirche tauchte erstmals 1985 auf der B-Seite «L’Annonciation» ihrer weitgehend in Vergessenheit geratenen Single «On est tous des imbéciles» auf und wurde visuell im 1986er Video zu «Plus grandir» umgesetzt, aber auch in den Clips oder Texten von «Vieux bouc», «We’ll never die», «Tristana», «Sans logique», «Agnus Dei», «Que mon cœur lâche» und nicht zuletzt in ihrem Kinofilm «Giorgino» gibt es immer wieder mehr oder weniger versteckte Anspielungen und Ohrfeigen in Richtung kirchlicher Dogmen und Ideologien. Der Text und vor allem das Video zu «Je te rends ton amour» – das in Frankreich wegen „Blasphemie“ auf den Index gesetzt wurde und nur in einer zensierten Version im Fernsehen gezeigt werden darf – greifen thematisch also wieder diese früheren Ideen auf und rücken von der inhaltlichen Radikalität her ein wenig in die Nähe von «Agnus Dei» (1991). Letzteres befaßt sich allerdings hauptsächlich mit einer Beschreibung der erlittenen Qualen und deutet nur am Ende vage eine Art Erlösung an («Ich entferne mich von allem / Ich bin Euch so fern»), während JTRTA gleich in der ersten Zeile mit dem «Herausziehen aus dem Rahmen» beginnt, d.h. dort fortsetzt, wo «Agnus Dei» abbrach, und im ganzen auch viel entschlossener, selbstbewußter, kämpferischer wirkt. Mylène scheint also seit damals auf ihrem Weg der Loslösung von diesen belastenden Dogmen weiter vorangeschritten zu sein (u.a. hat sie sich nach eigener Aussage ja auch mit den Lehren des Buddhismus beschäftigt).

Es fällt auf, daß Mylène sehr vage, doppeldeutige Formulierungen gewählt hat, die vielerlei Interpretationen zulassen und, anders als in «Agnus Dei», das Thema der Abwendung von Gott kaum direkt ansprechen. Ein Blick auf das Single-Cover läßt allerdings erahnen, daß dies trotzdem ein zentrales Anliegen des Liedes sein dürfte, denn dort sehen wir Mylène in einer Kreuzigungspose, mit dem Kopf hintenüber (zum Schutz vor einen Angriff von vorne?) aus einer Art Fenster oder (Bilder-)Rahmen gebeugt, die Beine dabei wie in Abwehrstellung übereinandergeschlagen. (Übrigens wurde selbst das Cover angefeindet und durfte für die Exportsingles nicht verwendet werden. Probleme haben die Leute...) Schauen wir uns den Text aus diesem Blickwinkel etwas genauer an.

In der 1. & 3. Strophe entfernt sich das lyrische Ich «aus dem Rahmen/der Einfassung». Diese Beschreibung der Befreiung spielt erneut mit der Sprache der Malerei, es könnte sich um einen Bilderrahmen handeln, symbolisch um etwas, das das Leben umfaßt und gleichzeitig einschränkt, die Entfaltung behindert. Zudem klingt das französische Wort «cadre» gesungen genauso wie «cadres», also «Kader» – das läßt ans Militär denken, an eine in festen Ritualen erstarrte Gruppe von machthungrigen Menschen, an Herrschaft und Obrigkeit. Die Assoziation zur katholischen Kirche und ihren Pontifices liegt nahe. Die zweite Zeile greift die Metapher des Bilderrahmens wieder auf, Mylène beschreibt ihr Leben als «aufgehängt» oder auch «in der Schwebe», so, als wäre sie ein an einer Wand hängendes Bild, den Blicken preisgegeben, «bloßgestellt ... für tausende von Augen», wie es in der 5. Strophe heißt. Dies könnte sich auf Mylène als „Person des öffentlichen Lebens” beziehen. Mylène Farmer deutet in der dritten Zeile an, daß es sich beim Nachfolgenden um einen Traum handeln könne – «Ich träumte lieber/besser» –, andererseits könnte es auch heißen, daß sie sich wünscht, zu träumen und all das nicht wirklich zu erleben. Beim «l’âtre», dem «Herd» oder der «Feuerstelle» kommen wieder vage Gedanken an die kirchliche Thematik auf. Die spontane Idee von einem meiner Freunde war hier ein Altar, auf denen früher Brandopfer dargeboten wurden. Sehen wir den Refrain als eine direkte Ansprache an die Kirche und Gott, so ist dies eine ganz offenkundige Wegwendung des lyrischen Ichs von dieser Ideologie. Sie gibt die sie belastende Liebe des ach! so liebevollen Gottes (3. Strophe: «Ich habe das Märchen eines geliebten Sterblichen geglaubt / Du hast mich getäuscht») an IHN zurück, um wieder ihre eigene, persönliche Gestalt, ein eigenes Profil, ihre «Konturen», zurückzuerhalten, die sie von der amorphen Menge unterscheidbar, einzigartig, kurz: menschlich, menschenwürdig machen. Das Bild, das Mylène hierzu heraufbeschwört, ist das der «aufrechten, nackten Frau» – aufrecht, das bedeutet auch ungebeugt, nicht zur demutsvollen Verbeugung geneigt, selbstbewußt, auf eigenen Füßen stehend, und die Nacktheit erinnert an eine Rückkehr zu einem Zustand der Ursprünglichkeit, der „verlorenen Unschuld”; «Je voudrais retrouver l’innocence» («Ich möchte die Unschuld wiederfinden») singt M.F. bereits 1991 in «Désenchantée».

Sehr gelungen finde ich auch die Schlußzeile des Liedes, eine nette ironische Replik auf das christliche Alleinvertretungs-Dogma «Du sollst keinen Gott haben neben mir» – Mylène beendet die Aussage, ihr einziger Meister sei Egon Schiele, mit einem «und...» – frei nach dem Kalkofe’schen Motto: «Es kann nur einen geben... oder zwei... oder drei... aber viel mehr bestimmt nicht...» Außerdem wird hier, unterstützt durch die Doppeldeutigkeit des Wortes «maître», das «Meister» und «Herr» heißen kann, vielleicht auch zum Ausdruck gebracht, daß sie der Idee eines Herrn, DES Herrn dort oben, kritisch gegenüber steht und diesen Begriff deshalb nur im Zusammenhang mit Meistern der Kunst sehen mag.

     
 
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