Anmerkungen zu «Effets secondaires»
von Peter Marwitz, Juli 2000


«Nebenwirkungen» – schon der Titel dieses Liedes, das Mylène Farmer ihrer «Je te rends ton amour»-Single als Bonustrack spendierte, läßt uns vermuten, daß man sich diesen Song nicht anhören sollte, ohne vorher den Arzt oder Apotheker konsultiert zu haben... Da das Lied unverantwortlicherweise ohne erläuternden Beipackzettel in die Hände des ahnungslosen Käufers und Patienten gerät, möchte ich auf diesem Wege auf das eine oder andere Risiko hinweisen, um besagte Nebenwirkungen auszuschließen. Von der musikalischen Atmosphäre her geht «Effets secondaires» ziemlich eindeutig in Richtung früherer Mylènescher Werke, als sie noch betont dunkle und mysteriöse Klänge zelebrierte. Vielleicht war das ein Grund dafür, daß das Lied nicht auf dem «Innamoramento»-Album Platz fand und „nur” auf eine Single ausgelagert wurde? Es wäre auf jeden Fall schade, wenn es in Vergessenheit geriete, denn meiner Meinung nach handelt es sich hierbei um ein besonders gelungenes Stück, für mich eines der besten ihrer Karriere. Besondere Kopfschmerzen bereitet jedoch der Text, der absolut sonderbar, wundersam und irgendwie auch konfus wirkt. Fast so, als wenn Mylène aus einem wirren, bösen Traum erwacht und ihre Empfindungen niedergeschrieben hätte. Man könnte dabei auch an jemanden denken, der schlaflos im Bett liegt, die Stunden verrinnen sieht und sich selbst dabei in der Dunkelheit des Zimmers durch gruselige Trugbilder und Gedanken am Einschlafen hindert.

Sehen wir uns den Text also doch mal etwas genauer an, vielleicht läßt sich ja doch noch eine Art tieferer Sinn darin entdecken. Drei verschiedene Thematiken durchziehen das Lied: Da wäre zum einen die Ebene der Medizin & Krankheit, wie sie bereits im Titel («Nebenwirkungen» von Medikamenten) steckt. Auch an einigen anderen Stellen läßt Mylène diese Thematik in den Text einfließen – die «Ataxie», die Bewegungsstörung taucht mehrfach auf, zudem spielt sie mit dem berühmten, aus der Fernsehwerbung für Medikamente bekannten Satz «Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker», außerdem entdeckten wir «Grenzwerte» und einen «beschleunigten Herzrhythmus». Wer weiß, vielleicht haben ja die unerwünschten Nebenwirkungen einer Arznei das lyrische Ich in diesen verwirrten und unruhigen Zustand versetzt? Der mir als Banausen bis dato unbekannte Begriff Ataxie ist mir übrigens gerade heute rein zufällig in einem Buch als sog. „Zeit-Ataxie” unter die Augen gekommen – hier ein kleiner Auszug: «Meerloo achtete besonders auf die „Zeit„konfusionen und „Zeit”krankheiten, die Menschen entweder aufgrund von Drogen wie z.B. LSD, verschiedener Gehirntumore oder Schizophrenie erleben. Eine derartige Chrono-Ataxie kann alle Arten von Persönlichkeitsstörungen hervorrufen. «Bei Schizophrenen ist die Einheit des Realitätserlebens mit Hilfe unterschiedlicher Sinne beeinträchtigt. Einige dieser Patienten haben tatsächlich das Gefühl, in Zeitfragmenten zu leben. Sie sind nicht in der Lage, diese unterschiedlichen Zeit-Linien zueinander in Beziehung zu setzen und zu integrieren; 'vorher' kommt oft 'nachher'.»»

Womit wir dann also, ebenso zufällig, bei der zweiten großen Thematik des Liedes wären – auf der Ebene der erbarmungslos tickenden Zeit, die das Leben permanent zergliedert. Auch dies könnte man bereits im Titel entdecken, wenn man «Effets secondaires» mutig als «Sekunden-Effekte» interpretiert. Die Aufzählung der Uhrzeiten, das Zählen der Stunden gibt diesem Lied letztlich auch den Takt an, es bestimmt alles andere, was noch zur Sprache kommt. Lediglich ganz am Schluß tauchen zwei Zeilen auf, die nicht durch die Uhrzeit eingeleitet werden – zeichnet sich hier eine bewußte, willentliche Auflösung des starren Korsetts ab oder deutet es vielleicht nur daraufhin, daß das lyrische Ich langsam in den Schlaf (in Bewußtlosigkeit) sinkt? Wir werden es nie erfahren, denn, wie gesagt, Lied & Text sind hier zu Ende. Das Lied selbst endet übrigens mit einem 30-sekündigen, nervtötenden Dauerklingeln eines Weckers... Die Verbindung von Zeit und Krankheit ist auf jeden Fall bemerkenswert, beinahe so, als wenn Mylène Farmer die Zeit und ihr Verrinnen mit den Folgen einer Krankheit gleichsetzt, die den menschlichen Körper und Geist ebenfalls „zersetzen“ kann. Mylène hat sich dieses Themas in ihrer Karriere bereits des öfteren angenommen und sich auch in Interviews dazu geäußert – der Song «Et si viellir m’était conté» auf dem «Innamoramento»-Album wäre ein Beispiel dafür, und natürlich Baudelaires programmatisches Gedicht «L’horloge», mit dem Mylène ihr 88er-Album «Ainsi soit je...» genauso stilvoll einleitet wie auch ihre erste Tour 1989. In «L’horloge» ist die Zeit ein «finstrer Schreckensgott, der mit dem Finger droht» und den Menschen permanent daran erinnert, wie vergänglich das Dasein ist und wie schnell es an uns vorüberzieht. Die Zeit hat für Baudelaire auch monsterähnliche Züge, sie ist ein Insekt, das mit seinem Rüssel unser Leben leersaugt (*gulp*).

Unheimlicherweise habe ich damit auch eine geeignete Überleitung zur dritten Themaik von «Effets secondaires» gefunden, denn wir finden hier überdies noch eine Ebene, die man in Mylènes Texten so direkt selten zu sehen bekommt, nämlich die des Horrors & des Gruselns, obwohl es natürlich schon einige Lieder von ihr gibt, die etwas recht Unheimliches und Alptraumartiges ausstrahlen (siehe beispielsweise «La veuve noire» oder «Alice»). Der Bezug, den Mylène Farmer in diesem Lied zu Horrorfilmen nimmt, wird ganz deutlich durch die erwähnten «Krueger-Effekte», denn Freddy Krueger ist die Hauptfigur einer Kult-Horrorserie, die mit dem 1984 vom amerikanischen Regisseur Wes Craven (heutzutage vor allem bekannt durch die «Scream»-Streifen) gedrehten «Nightmare on Elm Street» ihren Anfang nahm. Wie üblich hilft uns das Internet dabei, die Hintergründe zu erhellen... – vielen Dank an Thomas Kohlschmidt, daß er mir diesen Artikel zur Verfügung gestellt hat!


FREDDY, HERR DER ALPTRÄUME – von Thomas Kohlschmidt

Wer hat Angst vor’m schwarzen Mann?
Sieben Filme und eine Fernsehserie lang versetzte Freddy Krueger uns in eine Wahnwelt aus Ekel-Träumen und schwarzem Humor. Das Monster mit dem pizza-artig verbrannten Gesicht, dem Hut, dem Streifenpullover und der Klingenhand ist heute eines der berühmtesten Wesen des Horror-Genres. Und es gibt nicht wenig Kenner der Szene die behaupten, Freddy würde einem Monster von Frankenstein, einem Dracula und dem unsterblichen Werwolf in nichts nachstehen. Wahrlich: Die Geschichte des Freddy Krueger ist eine der bösartigsten und doppelbödigsten, die je im Medium Film erzählt wurde.

Alles begann in Wes Cravens „Nightmare on Elm-Street” („Nightmare, Mörderische Träume”), der 1984 erschien und heute zu den Klassikern des modernen Horrorfilms zählt. Der Regisseur von so bekannten Werken wie „Das letzte Haus links” und „Hügel der blutigen Augen” war von der Grundidee ausgegangen, daß man im Schlaf angegriffen werden kann, gerade dann also, wenn man besonders entspannt und wehrlos ist. Beim Drehbuch ist er dann auch mit viel Psychologie zur Sache gegangen:

Teenager Tina wird Nacht für Nacht von gräßlichen Alpträumen heimgesucht, in denen sie von einem Mann verfolgt wird, der ein verbranntes Gesicht hat. Der Kerl trägt an der rechten Hand einen Handschuh, an dessen Fingern Rasiermesser befestigt sind. Damit will er sie zerfleischen. Der Angreifer hetzt sie durch eine surreale Welt aus Schatten. Er wächst aus Wänden, greift nach ihr, treibt sie hechelnd durch düstere Industrie- und Kellergänge. Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis er sie bekommt. Tina spricht mit ihren Klassenkameraden und erfährt, daß alle von ähnlichen Träumen gequält werden. Kurz darauf wird Tina blutüberströmt und total zerschnitten in ihrem Bett aufgefunden. Der Tatverdacht fällt auf ihren Freund Glen, der zuletzt mit ihr zusammen war, aber dieser stirbt in der Gefängniszelle. Nun wird Nancy, die eine Freundin von Tina war, von dem Killer gejagt. Das Mädchen erkennt, daß der Angreifer Menschen im Schlaf töten kann. Wenn er ihnen seine Klingen durch den Körper jagt, verbluten sie auch in der Realität. Nancy tut nun alles, um wach zu bleiben (Kaffee, Musik, Aufputschmittel). Als sie ihrer Mutter den Täter beschreibt, ist diese entsetzt, denn sie weiß, wer der Mörder aus dem Reich der Träume ist. Und Sie erzählt ihrer Tochter die grausige Wahrheit:

Vor Jahren trieb ein Mann namens Freddy Krueger in der Elm-Street sein Unwesen. Er fing kleine Kinder, schleppte sie in seinen Keller, tötete sie mit einem Rasiermesserhandschuh und verbrannte die Leichen in einem Ofen. Aufgrund eines Verfahrensfehlers mußte der Killer damals vom Gericht wieder auf freien Fuß gesetzt werden. Daraufhin versammelten sich die Eltern der toten und noch lebenden Elm-Street-Kinder und fingen Freddy. In einem Akt von Lynchjustiz weurde der Kindermörder angezündet und verbrannt. Damit schien alles wieder in Ordnung gewesen zu sein. Doch nun war Freddy offenbar zurückgekehrt, und er griff die Kinder der Eltern im Schlaf an, die ihn gelyncht hatten (Nancys Mutter war also auch dabei gewesen, und man ahnt plötzlich, warum sie trinkt...). Nancy ist schockiert. Doch dann will sie den Kampf gegen den Untoten aufnehmen. Sie tritt bewußt in die Traumwelt ein um den Klingenmann zu stellen und ihn zu besiegen. Ein groteskes Duell beginnt...

„Nightmare on Elm-Street“ ist und bleibt der purste aller Freddy-Filme. Er hatte noch nicht den schwarzen Humor, der ab „Freddys Revenge“ ins Spiel kam, dafür aber war er sehr beängstigend. Man sah den Traum-Mörder kaum, stets drückte er sich im Schatten herum oder huschte so schnell vorbei, daß man seine Fratze mehr ahnte als sah. Gerade diese Flüchtigkeit des Bösen war es, die einem den kalten Schweiß auf die Stirn trieb und auch heute noch treibt. Außerdem geizte der Film nicht mit ein paar deftigen Gore-Szenen, d.h. es ging sehr blutig-eklig zur Sache, was in späteren Filmen zurückgenommen wurde, um die Altersfreigabe von 18 auf 16 zu senken.


Lecker, lecker... scheint ein ein wirklich netter Film zu sein... Mylène Farmer greift in ihrem «Effets secondaires» auf jeden Fall die Schlaflosigkeit und die «gräßlichen Alpträumen», von denen die Protagonistin des Films heimgesucht wird, wieder auf, und wem das alles noch nicht genug Indizien sind, dem sei noch das «enervierend gemeine Kinderlied der Elm-Street» ans Herz gelegt:

«Eins, Zwei, Freddy kommt vorbei...
Drei, Vier, verschließe Deine Tür...
Fünf, Sechs, es holt Dich gleich die Hex’...
Sieben, Acht, es ist gleich Mitternacht...
Neun, Zehn, wirst den Morgen nicht mehr sehn...»

Zu frappant und offensichtlich sind die strukturellen Ähnlichkeiten dieses Textes zu «Effets...», denke ich, als daß sie reiner Zufall sein könnten. Hat Mylène ihr Lied doch auch in ähnlicher Weise aufgebaut, und mit der Zeile «1, 2, 3, wir werden in den Wald gehen» sogar zusätzlich auch eine Art Kinderlied/Abzählreim im Text untergebracht.

Und was ist nun unterm Strich die „Aussage” dieses Liedes? Eine gute Frage. Wie schon erwähnt, stellt Mylène Farmer hier anscheinend Krankheit und Zeit auf eine Ebene und gesellt dem dann auch noch den Horror und Schrecken eines alleszerfleischenden Psychopathen an die Seite. Keine sehr angenehme oder optimistische Sichtweise des Phänomens „Zeit”! Aber eine sehr eindrückliche und intensive, zweifellos, und eine, die vermutlich jeder (in vielleicht abgeschwächter Form) schon mal irgendwann empfunden haben dürfte, sobald sich die Zeit mal wieder als das eigene Leben beherrschender Dämon aufgespielt hat. Sei es nun, weil man berufsbedingt „keine Zeit” für andere Dinge und Menschen hatte, weil einem der Dauerstrreß suggerierte, daß „die Zeit zu knapp” ist und das Leben „irgendwie leer & nutzlos” an einem vorüberzog, oder sei es auch, weil sich die Zeit in unerquicklichen Situationen (Zahnarzt!) oder Momenten der Langeweile oder Schlaflosigkeit „endlos” hinzog und so ebenfalls die Rolle eines erbarmungslosen Feindes spielte, der einen zermürbt und erdrückt.

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