Anmerkungen zu «Désenchantée»
von Peter Marwitz, April 1992, Ü Sept. 2000


«Désenchantée» bedeutete im April 1991 das triumphale Comeback von Mylène Farmer nach zweijähriger Abwesenheit aus den Charts und den Medien. Viele Wochen lang hielt sich die Single auf Platz 1 in den Charts und verkaufte sich insgesamt sage und schreibe 1,3 Mio. Mal! Offensichtlich hatte Mylène wieder einmal den Nerv der Zeit getroffen und einen Text geschrieben, in dem sich viele Menschen wiederfanden. Doch handelt es sich keineswegs um einen harmlos-sonnigen Schallala-Text, wie man bei dem Erfolg zunächst mutmaßen könnte. Im Gegenteil, er bringt sehr gut eine in den heutigen jüngeren Generationen vorherrschende ernüchterte, enttäuschte, dem Leben desillusioniert gegenüberstehende Grundstimmung und -haltung zum Ausdruck.
       Letztlich besagt «Désenchantée» meines Erachtens, daß es heutzutage vielerorts ein Ende von Ideologien, Heilslehren etc. gibt, was bei den Menschen zu einer, zumindest vorläufigen, eigenen Verwirrung und Orientierungslosigkeit führt. Anders formuliert: das Gedicht beschreibt – aus persönlicher und dennoch für viele nachvollziehbarer Sicht – das Gefühl der (zwischenzeitlichen) Orientierungslosigkeit, das entsteht, wenn ein altes Weltbild oder überholte Ideale zerbrechen und man auf der Suche nach einem neuen Halt ist. Der Text stellt somit eine momentane Bestandsaufnahme der Empfindungen des lyrischen Ichs dar. Nach der Überwindung dieser Verwirrung kann man gestärkt aus der Desillusionierung hervorgehen, sofern man sich bewußt wird, daß man für sein eigenes Leben selbst verantwortlich ist. In die Brüche gegangene oder zumindest entwertete Illusionen, in Form von Religionen oder starren Gesellschaftsformen, hatten den Menschen das Denken und Entscheiden bis dato scheinbar abgenommen; alles war in Ordnung, wenn man nur so handelte, wie es der Führer, der Ober-Guru, der Papst etc. vorschrieben (es steht in der Bibel, also wird’s schon seine Richtigkeit haben). Und die Folge davon war und ist, daß viele Menschen es versäumten, ihrer inneren Ressourcen bewußt zu werden und diese zu nutzen – sie leiden also unter einer Art „fremdgesteuerten Selbstbeschränkung”.
       Auf das liedbegleitende „Video”, welches fraglos einer ihrer bedeutungsschwangersten, vielschichtigsten und ernsthaftesten Kurzfilme ist, möchte ich auch noch intensiver eingehen, denn es vertieft die im Text angesprochene Thematik noch weiter. Betrachtet man diesen gut zehnminütigen Clip zunächst nur ganz bodenständig und oberflächlich, so wäre eine der möglichen, offensichtlichen Interpretationen die, daß man, wenn man gemeinsam handelt, auch scheinbar unüberwindliche Hindernisse (wie das dargestellte Arbeitslager) besiegen kann.
       Dies ist jedoch, so glaube ich, längst nicht alles, was M.F. & Boutonnat in diesem Film ausdrücken. Als ich mir ihr „Video” mit dem Gedanken des „sein-Leben-selbst-in-die-Hand-Nehmens” im Hinterkopf ansah, bemerkte ich plötzlich, daß hier – wie üblich in symbolischer oder verschlüsselter Form – zusätzlich, wenn nicht gar hauptsächlich auch dieser Aspekt illustriert wurde. Das Arbeitslager könnte für starre Beschränkungen und Zwänge stehen, die von den antiquierten „moralisierenden” Ideologien ausgehen, wie sie z.B. religiöse Institutionen (oder politische Dogmen) vertreten – gleich zu Beginn des Filmes läuten Kirchenglocken, während Mylène in das Gefängnis gebracht wird, und ein Kruzifix im Speisesaal geht nachher in den Flammen zu Boden. Wer „aus der Rolle fällt” oder „aus der Reihe tanzt”, sich also nicht an die strengen Regeln der Ideologie hält, wird bestraft – im Clip stürzt ein Junge beim Tragen von Mehlsäcken und wird vom Lagerpersonal dafür anschließend körperlich gezüchtigt. Noch eine Randbeobachtung: Das Lagerpersonal, das die Bewahrer der Traditionen darstellt, besteht überwiegend aus schon etwas älteren Menschen, während die Gefangenen selbst, die letztlich die Veränderungen durch die Befreiung herbeiführen und Hoffnungsträger auch für spätere Generationen sind, aus den Reihen der Kinder und jüngeren Erwachsenen stammen. Befreien sich die Menschen nun durch einen (inneren?) Aufstand, der seinen Anfang nimmt in der Bewußtwerdung ebenjener Abhängigkeit von Ansichten und Vorschriften anderer, so sehen sie sich zunächst in der Lage, Berge zu versetzen und die Zwänge abzuschütteln.
       Da den Menschen jedoch plötzlich die Leitbilder und damit ebenfalls in gewisser Weise die Orientierung verloren gegangen sind, fehlt ihnen womöglich auch die bislang gewohnte Geborgenheit im Leben (im Film wird diese z.B. dargestellt durch die notdürftige Befriedigung elementarer Grundbedürfnisse wie Nahrung und Kleidung, die die Insassen ja immerhin erhalten – allerdings für den hohen Preis der Aufgabe ihrer persönlichen Freiheit und selbstbestimmten Persönlichkeitsentwicklung). Darum besteht nun die Gefahr, daß man sich von neuen „Quacksalbern” einfangen und für deren Lehren ausnutzen läßt (Sekten u.ä.), oder daß man mit seiner Freiheit, mit der Verpflichtung zur Selbstverantwortung nichts anzufangen weiß und in Sinnlosigkeit oder Verzweiflung verloren geht. Dies ist wohl eine Tendenz, die heutzutage nicht selten zu beobachten ist, und das ist eine nicht ungefährliche Seite der Desillusionierung.
       Wer sich jedoch in dieser Situation der vorübergehenden Orientierungslosigkeit bewußt wird, daß man fürderhin für sich selbst verantwortlich ist und man sein Leben selbst gestalten kann, der hat zwar unter Umständen einen zunächst ungewohnten und anfänglich anstrengenden Weg vor sich (insbesondere die Umgewöhnung ist wohl nicht zu verachten), doch kann er schließlich vielleicht auf ein erfüllte(re)s Leben zurückblicken. Am Ende des Filmes bleiben die Flüchtenden nach dem Verfliegen der ersten Euphorie plötzlich erschrocken stehen und blicken über eine unberührte, platte, schneebedeckte Landschaft („horror vacui”, die Angst vor der Leere), die sich ihnen als unbegrenzte Ebene der Entfaltung darbietet. Daraufhin setzen sie ihren Marsch bedächtiger fort und beginnen überdies, auseinanderzulaufen – jeder bahnt sich seinen eigenen Weg, schlägt eine eigene Richtung ein. In diesen Szenen kommt recht klar zum Ausdruck, daß die Protagonisten des Videos ernüchtert erkannt zu haben scheinen, daß die Welt keinen vorgefertigten, allgemeingültigen Sinn hat, sondern praktisch „leer” ist und man ihr seinen eigenen Sinn geben muß bzw. darf (eine recht Sartre’sch-existentialistisch anmutende Sichtweise). Mit dieser Bildeinstellung, dem Beginn des Findens eines eigenen Weges jedes einzelnen, bleibt der Clip stehen.
       Als wäre das noch nicht genug, stellt das Video sogar eine thematische Brücke zwischen den ersten drei Liedern des Albums dar. Zum einen greift er kurz die Beendigung der Abhängigkeit, der Hörigkeit von der Kirche und kirchlicher Repression auf (oder eben von Ideologien ganz allgemein), wie sie in «Agnus Dei» schon eindrucksvoll geschildert wurde. Außerdem wird der Blick bereits nach vorne gerichtet und eine der möglichen Aussage des folgenden Liedes – «L’autre» – angedeutet, nämlich der eben angesprochene Gedanke des für sich selbst die Verantwortung Übernehmens und des Entdeckens der eigenen inneren Kräfte zwecks aktiver Gestaltung seines Lebens.
       Interessant ist auf jeden Fall auch, daß man «Désenchantée» vielschichtig auffassen kann. Zum Beispiel ist es möglich, die „Internierung”, die (gesellschaftlichen, sozialen usw.) Zwänge auf das einzelne Individuum zu beziehen, womit dann insbesondere seelische Nöte gemeint sind und der erfolgte Aufstand demzufolge ein innerer ist. Gleichzeitig können die Zwänge etc. auch auf eine gesamte Gesellschaft, Gesellschaftsform oder einen Staat gemünzt sein, was nicht zuletzt das Aufbegehren zu einem offenen, handlungsaktiven Akt werden läßt, der – da ja eine alte durch eine neue Ordnung ersetzt wird – nicht ohne Leiden und Gefahren, und damit (wie auch im Video zu sehen) nicht immer ohne Blutvergießen abgeht; Beispiele für solche Prozesse gibt es in der Welt zur Genüge, wie Ex-Jugoslawien oder die ehemalige UdSSR zeigen.
       Wie schwierig sich ein solcher Umlern-Prozeß gestalten kann, erleben wir letztlich auch in der in die ewigen Jagdgründe eingegangene DDR. Für die Menschen im „anderen Teil Deutschlands” verschwand quasi über Nacht der jahrzehntelang vorhandene, staatlich verordnete, ideologische Überbau (damit auch ein gewisser Halt) – und mit einem Mal waren sie auf sich allein gestellt, was für viele eine völlig neue Situation darstellte, schließlich wurde ihnen das eigenverantwortliche Denken ja zuvor von oberen Stellen abgenommen (wenn nicht gar untersagt). Aus dieser unerwartet eingetretenen Orientierungslosigkeit resultieren dann natürlich mancherlei Probleme, man wird – wie schon erwähnt – anfällig für mannigfaltige populistische Strömungen, seien sie nun religiös-fanatischer oder destruktiv-politischer (Rechtsradikalismus usw.) oder wirtschaftlich-ideologischer Natur. Übrigens: möglicherweise ist es auch kein Zufall, daß Mylène Farmer und Laurent Boutonnat den Film in Ungarn gedreht haben, nahm doch dort der Fall des eisernen Vorhangs seinen Anfang.


Noch ein kurzer diesbezüglicher Auszug aus einem M.F.-Special auf radio ffn, Juni 1991:
«... „Désenchantée”, von dem neuen „L’autre...”-Album von Mylène Farmer, die „meilleure vente française” – der französische Bestseller (in Frankreich) seit drei Jahren; jetzt auch endlich auf Stellwänden in deutschen Plattenläden. „Désenchantée”, das bedeutet auf deutsch „entzaubert”, „desillusioniert”, und das bedeutet eigentlich zweierlei. Erstens: Mylène Farmer ist es einmal mehr gelungen, diese Welt in Worte zu fassen, oder mit Worten zu umfassen. Entmystifiziert, entwertet entfernt sich diese Welt von enttäuschten, einander entfremdeten, entideologisierten Menschen – oder, zweitens: die entfernen sich von ihr. „Désenchantée” heißt entzaubert – und doch verzaubert der Text, verklärt und verrät eine Welt, in der nur noch Werte zählen und deren abgezählte Werte die Welt doch entwerten. „Désenchantée”, das ist bewußter Bezug auf Baudelaire – das ist französische Weissagung und Philosophie im 20. Jahrhundert.»


Und weil's so schön war ;-) beschließe ich diesen Text mit einigen Zitaten zum Thema „orientierunglose Generation“:
Klaus Woltron, „Der Wald, die Bäume und dazwischen“, 1992, S. 123, S. 191/192:
„Pluralistisch“ ist ein wunderbarer wissenschaftlicher Ausdruck, der den Kern allerdings nicht trifft. Wir leben nicht nur in einer vielfältigen Gesellschaft, sondern auch in einer zerissenen Gesellschaft. Diese zwingt – oder veranlaßt – den einzelnen dazu, sein individuelles Schicksal und den dafür unbedingt notwendigen Sinn selbst zu suchen. Das ist für viele ein unlösbares Unterfangen. Andererseits gibt es auch die Chance, daß jeder nach seiner Façon selig werden kann. Derzeit schlägt das Pendel recht oft in die Richtung aus, die neuen Freiheitsgrade in Richtung des individuellen Unglücklichwerdens zu nutzen.

(...) Sinnlosigkeit
Die Zunahme des Wissens und die Erforschung vieler weißer Flecken auf der Landkarte der Wissenschaften haben dazu geführt, daß die Grenze zum Unbekannten immer weiter hinausgeschoben wurde, gleichzeitig aber das Wissen um das prinzipiell Unerklärbare präziser und endgültiger – und damit hoffnungsloser – wurde. In Verbindung mit den stärker werdenden Zweifeln am überkommenen Gottesbegriff, der Skepsis im Hinblick auf die Lehren von der unsterblichen Seele hat sich, insbesondere im Westen und in den sogenannten „aufgeklärten Demokratien“, eine Hoffnungslosigkeit entwickelt, die auf Sinnleere und alle damit verbundenen Leiden zurückzuführen ist.
Johannes von Buttlar, „Die Einstein-Rosen-Brücke“, 1992, S. 223-226:
(...) Denn die Menschheit vollzieht einen Drahtseilakt, bei dem sie mehr und mehr aus der Balance zu geraten scheint. Die Hauptschwierigkeit liegt wahrscheinlich in der Ursache, daß der Mensch selbstgeschaffenen Problemen gegenübersteht, für die ihm die entsprechende Synthese fehlt, leben wir doch in einer Welt der Gegensätze, durch die sich die meisten Menschen verunsichert fühlen müssen.
(...) Da viele Menschen mit den rapiden Veränderungen nicht mehr Schritt halten können, schlägt sich diese Situation in breiten Bevölkerungsschichten als Verunsicherung nieder. Alles in allem kann also gesagt werden, daß die Menschheit aus dem Äquilibrium geraten ist. Und um weiterexistieren zu können, muß sie zum Gleichgewicht zurückfinden.
(...) »Die Ideologien, der Haß und die Illusionen unseres Jahrhunderts, die eine Vielzahl von Katastrophen herbeigeführt und die Leidenschaft derer, die an sie glaubten, verschwendet haben, werden das dritte Jahrtausend nicht mehr erleben – sie haben verspielt.«, so Samuel Pisar.
Reinhard Sprengler, „Mythos Motivation“, 1992, S. 25:
»Die Periode, in der wir leben, ist eine Periode wachsender Unsicherheit. Alles rutscht: die moralischen Standards, die überlieferten Strukturen, die vertrauten Formen von Familien, Religion, Technik, Wirtschaft. Sogar der real existierende Wertekanon bricht zusammen. Die Welt, in deren Rahmen wir uns und die anderen verstanden haben, funktioniert nicht mehr. Die Prachtzeit ist abgelaufen, ihre Ordnung zerbröselt.« Worte des Physikers Carl Friedrich von Weizsäcker. Er steht nicht in dem Ruf, ein Pessimist zu sein.
Gerd Gerken, in: „Radar für Trends“ Nr. 20, November 1992:
(...) Das post-moderne Bewußtsein entsteht. Es ist gekennzeichnet durch einen „lässigen Pluralismus“. Aus verpflichtenden Ideologien und klaren Werten ist ein „heterogenes Sortiment von Lebensstilen und Sprachstilen“ (Terry Eagleton) geworden. Damit wird an dieser Stelle sichtbar, wie sehr der Weg zum multiplen Ich verbunden ist mit der gleichzeitigen Auflösung der Werte.
(...) Die Aufgabe dieses Kaleidoskops, das immer mehr zur Substanz der Realität wird, heißt „ästhetische Aufheiterung“. Und diese permanente ästhetische Aufheiterung geschieht durch den Verzicht auf endgültigen Sinn, ewige Werte und globale Ideologien. Die Realität wird immer mehr der Tanz von vielen Brüchen. Und deshalb ist das post-moderne Ich ein Bewußtsein der Brüche.
(...) Immer mehr Vordenker und Jugendliche spüren bewußt oder intuitiv, daß in der jetzigen Welt, die komplex und chaotisch zugleich ist, jeder Versuch, Logik und Einheitlichkeit herbeizuzwingen, contra-produktiv ist. Unsere Kultur beginnt das Phänomen der Gleich-Zeitigkeit mehr und mehr zu akzeptieren. Jean-Francoise Lyotard dazu: „Wir haben die Sehnsucht nach dem Ganzen und Einen, nach der Versöhnung von Begriff und Sinnlichkeit, nach transparenter und kommunikativer Erfahrung teuer bezahlt.“ Kurz: Das Ich leidet, wenn es die Welt logischer machen will als sie ist.

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