Anmerkungen & Gedanken zu «Souviens-toi du jour»
von Peter Marwitz, Februar 2000



Vor einer wirklich inhaltlichen Auseinandersetzung mit diesem Text möchte ich mit einige Gedanken zur Meta-Struktur des Liedes beginnendie mir bereits während des Übersetzens spontan eingefallen sind. «Souviens-toi du jour...» ist das 12. Lied auf dem Album und das letzte mit „richtigem” Text. Danach folgt das Fast-Instrumental «Mylenium», bei dem Mylène für mein Empfinden einen persönlichen Rückblick auf ihre bisherige musikalische Karriere, also ihr ganz eigenes künstlerisches „Millennium”. hält. «Mylenium» schlägt eine musikalische Brücke zu den Anfängen ihres Schaffens, indem es den Hintergrundgesang von «Tristana» (zumindest den, der in ihrer 1989er Live-Version erscheint) einsetzt, genauso kommen die etwas „sakralen”, an Gothic-Musik erinnernden choralen Gesänge vor, die u.a. das «Ainsi soit-je...»-Album mitgeprägt haben. Dann zeigen sich schneidende Gitarren, wie sie sie in ihrer «Anamorphosée»-Phase dem staunenden Publikum vorgeführt hat, gefolgt von afrikanisch anmutendem Gesang, der in mir eine gewisse Verbindung an den arabischen Touch ihres 1996er Duetts mit Khaled – «La poupée qui fait non» – wach werden läßt. Und schließlich besteht der Text dieses Songs aus einem mehrfach gesungenen «Innamoramento», womit die Verbindung zum aktuellen Album hergestellt wäre.

Ich denke, daß «Souviens-toi du jour» diesen im nachfolgenden Lied stattfindenden Rückblick Mylènes in gewisser Weise auf textlicher Ebene bereits vorbereitet. Nicht nur der Titel trägt das Erinnern in sich, es gibt auch einige Zeilen, die Anspielungen auf frühere Lieder darstellen könnten. Da wären die «desillusionierten Tage», die Mylène 1991 in «Désenchantée» so wunderbar vertont hat. Da sind die «feuchten Augen» ihrer allerersten, 1984 erschienenen «Maman a tort»-Single. Auch der «Wind, der alles zerstreut» tauchte bereits früher einmal in «Laisse le vent emporter tout» (1995) auf. Und nicht zuletzt gibt es eine unübersehbare Referenz an das von ihr 1988 vertonte Baudelaire-Gedicht «L’horloge» – «Souviens-toi», der mahnende Aufruf der Uhr, sich an die Vergänglichkeit des Lebens zu erinnern. Nicht nur Baudelaire, auch Mylène Farmer scheint vom Phänomen der verrinnenden Zeit fasziniert zu sein (siehe u.a. auch das neue «Effets secondaires» – kann sowohl «Nebenwirkungen» wie auch «Sekundenwirkungen» heißen – auf der «Je te rends ton amour»-Single). «Souviens-toi...» fügt also gewisse, ihr vermutlich besonders wichtige Gedanken(fragmente) hier noch einmal zusammen; ein letztes Erinnern vor dem Weltuntergang, der ja nun bekanntermaßen neulich doch noch nicht stattfand... :-)

Erstmals in ihrer Karriere enthält das Booklet zur CD «Innamoramento» übrigens nicht nur ein paar nette Bilder von Mylène, sondern die Abbildungen scheinen einige der Lieder noch näher zu beleuchten, zu illustrieren. Im Falle von «Souviens-toi...» finden wir u.a. ein paar Fußspuren im Sand – ein sehr schönes Bild, das hier hervorgerufen wird: Wenn man geht (auch im Sinne von 'stirbt'), hinterläßt man Spuren. Vergänglich und doch eindrücklich. Spätestens in diesem Moment könnte man bereits vermuten, daß der Text noch auf anderen Ebenen als „nur” der rein persönlichen von Mylène zu verstehen ist. Sie versucht, die Spuren von jemandem durch dieses Lied zu bewahren, vor dem Davongeschwemmtwerden der Gezeiten, vor dem Kommen und Gehen von Moden, Trends und Strömungen zu retten. Gegenüber dem Liedtext finden sich noch mehrere Fotos, teils schwarz/weiße, betont alte Abbildungen von Menschen, die über eine Art Pflaster mit anderen, neueren Fotos verbunden sind. Auch hier entdecken wir den Erinnerungs-Effekt an vergangene Zeiten (angedeutet durch die vergilbten Aufnahmen), die jedoch eine Verbindung zur heutigen Zeit, zur Aktualität, und damit auch zur Zukunft haben bzw. deren Verbindung Mylène durch ihren Text, ihr Lied möglicherweise herstellen möchte.

Zugegebenermaßen wäre ich von alleine nie und nimmer darauf gekommen, welchen konkreteren Bezug «Souviens-toi du jour» nun besitzt. Doch wozu gibt es das Internet? Richtig, um sich Bilder von nackten Frauen runterzuholen... äh, Moment, falsche Antwort, ich meinte natürlich: um Informationen zu sammeln... ;–) Also, laut allwissenden M.F.-Websites ist «Souviens...» eine Hommage an Primo Levi, einen italienisch-jüdischen Autor, der von den Nazis nach Auschwitz deportiert wurde und über seine Erlebnisse im KZ das Buch «Et si c’est un homme» schrieb. Hier ist der übersetzte Artikel:


Das Lied «Souviens-toi du jour« ist eine Hommage an das Buch «Si c’est un homme» (dt.: «Ist das ein Mensch?») von Primo Levi, das er 1947 geschrieben hat. Dieser herzergreifende Zeitzeugenbericht eines Mannes, der die Konzentrationslager der Nazis überlebt hat, hat es vielen tausenden von Leuten ermöglicht, diese ganzen Unmenschlichkeiten und Qualen nicht zu vergessen... nicht zu vergessen, wozu der Mensch in seiner Machttrunkenheit fähig ist!

Primo Levi studierte in Turin, kurz bevor das faschistische Rassengsetz von 1938 es den Juden untersagte, Zugang zum Schulsystem zu haben. Er setzte sein Chemiestudium an der Universität von Turin fort und erlangte sein Diplom 1941. Levi schrieb auch viel für ein Widerstandsmagazin, als er versuchte, im Dezember 1943 Kontakt zu einer Partisanengruppe aufzunehmen, wurde er festgenommen und anschließend in einem Lager eingesperrt, um zwei Monate später nach Auschwitz abtransportiert zu werden. Nach der Befreiung durch die Sowjets im Januar 1945 kehrte Primo Levi nach einer achtmonatigen Odyssee nach Turin zurück...

Er nahm seine Arbeit als Chemiker wieder auf, bevor er 1977 in den Ruhestand ging und sich ausschließlich der Schriftstellerei widmete. Seine Erinnerungen an das Gefängnis hat er in Form von Memoiren aufgeschrieben, «Si c’est un Homme» entstand aus diesem Rückzug... Es wurde zehn Jahre später in einer längeren Version neu aufgelegt und verkaufte sich alleine in Italien 500.000 Mal. Das Buch wurde in acht Sprachen übersetzt und sogar für das Theater umgesetzt. Er spricht hier von jenem Teil seines Lebens, in dem er sowohl seiner Identität wie auch seiner Würde beraubt wurde. Das moralische Gewissen Primo Levis war stärker als der Haß, den er für seine Peiniger empfand, trotz der Brutalität, der er unterworfen war! Dieses Buch ist die düstere Geschichte der menschlichen Tyrannei!

Primo Levi starb am 11. April 1987 in Turin. Vermutlich war es Selbstmord. Er hat sich das Treppenhaus seines Wohnhauses hinuntergestürzt. Aber seine Schriften bleiben und die Erinnerung lebt weiter, damit eines Tages jeder Mann und jede Frau in einer besseren Welt leben kann... «Et si c’est un homme... („Und wenn es ein Mensch ist“)... lui parler d’amour à volonté! („Mit ihm über die Liebe aus freien Stücken sprechen“)»

Die Gründe, die Primo Levi dazu veanlaßt haben, sich in den Tod zu stürzen, bleiben für immer ungewiß. Der italienische Autor hinterließ keinen erklärenden Hinweis, und was seinen Tod umso unverständlicher macht, ist, daß er Selbstmord oft verdammt/abgelehnt hat, selbst in den schmerzhaftesten Augenblicken. Einige Kommentatoren bemühten sich eifrig, eine Verbindung zu seinem Aufenthalt in Auschwitz herzustellen, wie sie es bereits früher bei anderen Überlebenden taten, darunter der österreichische Philosoph Jean Mery, Mitinsasse von PrimoLevi. Hat er nicht geschrieben, daß «der Selbstmord eine nebulöse Erklärung gestattet»?

Diese tragische Tat markierte einen Schlußpunkt, aber sie warf auch mit neuer Intensität die Fragen auf, die der Schriftsteller seit vierzig Jahren stellte. Wie kann man nach Auschwitz leben? Wie kann man schreiben und denken nach dem Völkermord an den Juden und Zigeunern? Hat die Poesie noch einen Sinn im Herzen der Nacht der Nazi-Konzentrationslager? Viele Fragen, die nicht aufhörten, Primo Levi zu verfolgen, genauso wie sie Hannah Arendt oder Theodor Adorno quälten.

Primo Levi hat sich «dazu verdammt, über Auschwitz zu sprechen, der Wächter seiner Erinnerungen zu sein», analysierte der italienische Kritiker Cesare Cases. Sein gesamtes Werk gruppiert sich um diese Erfahrung. Seine Kraft saß in einer nüchternen, allem Pathos entledigten Schreibkunst, verdichtet durch seine Herangehensweise des Chemikers (ein Bereich, den er nie ganz aufgab) und seine Erlebnisse im Lager.

Myriam Anissimov hat verstanden, daß er diese Präzision, diese Klarheit, dieses wissenschaftliche Herantasten, das durch Hypothesen vorankommt und nur das akzeptiert, was bewiesen ist, brauchte, um dieses Leben zu erzählen.

Primo Levi überzeugte sich selbst, daß seine Existenz «ohne» Auschwitz – aber alles ist enthalten in diesem «ohne» – nur sehr Banales böte: die logische Entwicklung eines Sohnes aus guter Familie, in einem gegenüber Juden absolut toleranten Piémont (??), dem eine Zukunft zwischen Familie und Arbeit versprochen wurde, der nur hin und wieder einmal zu einer Tour in die Berge aufbrach. Die Ankunft des Faschismus, ein sich spät entwickelndes Engagement in der Résistance (der Gruppe «Justice et Liberté» («Gerechtigkeit und Freiheit»)), die Verhaftung und die Deportation hatten ihn mit einem Schlag all dieser Sicherheiten beraubt.

Der Weg von Primo Levi als Zeuge und Schriftsteller nahm, war gesäumt von Fallstricken, Irrtümern und Leiden. Es hat ihn fast zwanzig Jahre gekostet, um seine Chronik von Auschwitz – «Si c’est un homme» –, die er nach seiner Befreiung an einem Stück zu Papier gebracht hatte, aus der Vertraulichkeit zu entlassen. Fortan über alle Kontinente verteilt, wurde das Manuskript zuvor von italienischen Verlegern abgelehnt. Die Welt war noch nicht bereit.

Trotz einiger anderer bedeutender Werke – «La Trêve», «Le Système périodique» oder «Les Naufrages et les Rescapés» –, wurde Primo Levi als Schriftsteller zu Lebzeiten niemals vollständig gewürdigt. Er blieb vor allem ein Zeuge. Sein literarisches Talent wußte man erst nach seinem Tod zu würdigen.

Als Ehrenmann, der er war, schlug er sich schmerzhaft mit den Attacken herum, die von den Linken kamen und die ihm ein zu schwammiges soziales Engagement vorwarfen, und Mitglieder der jüdischen Gemeinde akzeptierten seine zaghaften Standpunkte im israelisch-arabischen Konflikt nicht.

Eingeschlossen in all diesen Widersprüchen – ganz zu schweigen von den familiären – wurde ihm der Rückzug schwer gemacht, zumal zu Beginn der 80er Jahre das Nahen der „Verneinungs-Thesen“ (Leugnung des Judenmordes durch Ewiggestrige??) sich wie eine schneidende Klappe vor das Objektiv eines ganzen Lebens legten: gegen das Vergessen kämpfen.
© Michel Fingerhut 1996-1999
Übersetzung durch Peter Marwitz, 9.1.2000

Es gibt übrigens auch außerhalb des Songtextes noch einige weitere Hinweise auf den Bezug von «Souviens-toi...» zu Primo Levi. So ist auf dem Plattencover der Titel des Liedes zusätzlich noch einmal in Hebräisch abgedruckt, und Mylène singt auch eine Zeile auf Hebräisch, auch wenn diese nicht im Booklet-Abdruck auftaucht. In dem das Lied begleitenden Videoclip – interessanterweise von dem deutschen Regisseur Marcus Nispel gedreht – befindet sich Mylène in einem brennenden Gebäude, und in diesen Feuer geht u.a. auch ein Exemplar von Hitlers «Mein Kampf» in Flammen auf, was wiederum einen sehr deutlicher Fingerzeig auf Primo Levi darstellen dürfte.

Allerdings muß man anmerken, daß Mylène Farmer sicher besser daran getan hätte, sich nicht ein weiteres Mal mit Nispel einzulassen, denn bereits seine Clips zu «XXL» und «L'instant X» zeichneten sich durch eine beachtliche Nichtig- und Beliebigkeit aus. Ich persönlich finde das STDJ-Video das mit Abstand schwächste wenn nicht gar schlechteste in Mylènes Karriere, vor allem deshalb, weil sie hier im Prinzip nur leichtbekleidet und „supersexy” durch die Gegend stiefelt, was dem Ernst der Thematik nun absolut nicht angemessen ist. Erstaunlich und schade, wie wenig Fingerspitzengefühl Nispel und Mylène hier zeigen...

Daß es übrigens gerade in der heutigen Zeit wichtiger ist, „gegen das Vergessen” zu kämpfen, machen – man möge mir diesen Ausflug ins Politische verzeihen – die Erfolge rechtsgerichteter, polemisierender Parteien in Frankreich (Le Pen), der Schweiz und seit neuestem ganz besonders unangenehm und gefährlich auch in Österreich (sind die alle high da??) deutlich. Vor dem Hintergrund all dessen, was Nazis & Faschisten der Menschheit, der Menschlichkeit an Grausamkeiten angetan haben, ist es für mich auch absolut unerträglich, wenn Bands der sog. „neuen deutschen Härte” wie z.B. die dumpfdröhnende Rockkapelle «Rammstein» recht offen mit Nazi-Bombast und -Pathos kokettieren und Lieder wie «Ein Mensch brennt» zum „besten” geben, um so für einen medienwirksamen Schock- und Gruseleffekt zu sorgen, der die Verkaufszahlen bankkontofördernd nach oben treibt. Zu diesem traurigen Kapitel ließe sich noch einiges sagen, doch kommen wir lieber zurück zu «Souviens-toi...»... ich übergebe jetzt das Wort an Michael für ein paar weiterreichende Überlegungen zu diesem Lied...




Weitere Anmerkungen & Gedanken zu «Souviens-toi du jour»,
diesmal von Michael Kuyumcu, Februar 2000

Erinnere Dich – woran? Ich glaube, ich rolle das Lied besser von hinten auf, um an seine zentralen Aussagen heranzukommen.

»Souviens-toi que le monde a changé/Au bruit des pas qui résonnent« – „Erinnere Dich daran, daß die Welt sich verändert hat/Zum Lärm der Schritte, die wiederhallen”. Damit assoziiere ich Schritte von Soldaten, die, gleichgeschaltet und für die Dauer ihrer Befehle der zentralen Funktionen ihres Neokortex’ beraubt, im Gleichschritt marschieren. Frau Farmer meint, daß die Welt sich durch die Handlungen von Menschen, die menschenverachtende Befehle befolgen, verschlechtert habe. Das klingt nach nach starkem Unbehagen an eigenen Ahnungen beziehungsweise nach einem Appell, sich in bedrückenden Zeiten auf das Vorher zu besinnen, als diese Menschen noch nicht wie enthirnt im Auftrag selbst am Kriegsgeschehen unbeteiligter Regierungen mordeten, Wohnungen in Schutt und Asche legten und Fabriken (& damit Arbeitsplätze) vernichteten, vergewaltigten und Andersdenkende zu Tode deportierten. Bilder aus dem alten Nazideutschland steigen wieder auf. Gleichzeitig läßt sich diese Zeile auch so verstehen, daß die Schritte der Opfer, die zusammengetrieben und abgeführt werden, verhallen.

In der dritten Strophe singt sie »Les destins sont liés« – „Die Schicksale sind miteinander verknüpft”, in der „Katastrophe” sind in den desillusionierten Tagen, nach dem Verblassen früherer Ideale, die Schicksale „gewandelt” – »muets«. Beziehe ich das wieder auf NS-Deutschland, so gibt es die friedliche Gemeinschaft der Weltanschauungen und Religionen nicht mehr. Soldaten haben „gute” von „schlechten” Menschen gesondert und die „schlechten” ausgebeutet, vergast, geplündert und verscharrt, alles im blinden Glauben an die Autorität der selbstgewählten Führung und im Glauben an die Ideologien des Reinen, Hehren, Arischen, des urgermanischen Übermenschen.

»Des jours désenchantés« – „desillusionierte Tage” erinnern auch an Mylène Farmers Hit »Désenchantée«, der vom Zerplatzen des Glaubens an Ideologien allgemein berichtet. Passenderweise spielt der Clip zu »Désenchantée« übrigens in einem Arbeitslager. In dieser persönlichen (oder sogar kollektiven) Depression solle man sich erinnern an die Welt vor dem Chaos, vor der Gewalt, an den relativen Frieden und den nötigen gegenseitigen Respekt im menschlichen Miteinander, damit die entstandene Sinnleere nicht in zynischen (rassischen) Egoismus umschlägt, und nicht wieder in Ideologien, die das Leben des Anderen nicht mehr hochachten.

Mylène Farmer beschreibt im Refrain ein Bild der Bedrückung und Unterdrückung von Menschen: „Der Atem ist entronnen” – vielleicht ist jemand gestorben –, „Die Augen sind feucht geworden, die Gesichter in Kummerfalten gelegt” – und das nicht nur für eine Minute, sondern durch den Schrecken der Erinnerung für alle Ewigkeit. Möglicherweise wurde jemand (ein Jude in einem Konzentrationslager?) umgebracht oder ist an den Torturen seiner Peiniger verendet, in Gegenwart anderer, die diese Grausamkeiten mitansehen mußten. Wie schon bei den „verhallenden Schritten” ist auch diese Zeile mit doppelsinnig zu verstehen: Die „zusammengepreßten Gesichter” können von blindem Haß und Fanatismus verkrampft und verengt sein und den NS-Schergen gehören – oder es können die schmerzverzerrten Gesichter der Gequälten und Geschundenen sein. „Die Hände sind erhoben” (Hände hoch!), und das Ganze erinnert an eine kollektive, weltweite Bedrückung, Depression. Die letzte Zeile »A l’homme que nous serons« – „Zu dem Menschen, der wir selbst sein werden“ ahnt voraus, daß „uns” (die Mörder?) unter veränderten Bedingungen einst ein ähnliches Schicksal ereilen könnte, denn die blinde Hingabe an Ideologien und Glaubensvorstellungen aller Art ist allgemein menschlich. Möglich, daß Deutsche mit ihren so geliebten Kategoriendenken und ihrem Glauben an die Exaktheit von Sprache besonders anfällig sind für Ideologien, die Dinge oder Menschen in „gut” und „böse” sortieren. Dabei merken sie nicht, daß dieses Sortieren selbst vielleicht schon „böse” ist.

Gegen dieses Kröpfchen-Töpfchen-Denken geht Mylène vor, indem sie in der zweiten Strophe daran erinnert, daß man im Gegenteil auch „alles geben” und „sich wiedervereinigen” kann. Sie verfolgt damit einen ähnlichen Denkansatz wie der Philosoph von Weizsäcker, der die Ansicht vertrat, man solle in der Kunst nicht danach streben, das Grausige, den Schrecken nachzubilden (was aufgrund der Unvorstellbarkeit der Greuel ohnehin nicht geht), sondern stattdessen das herausstellen, was Kulturen und Weltanschauungen miteinander verbindet: »Les destins sont liés«. Die Religionen der Erde haben sich nachweislich immer gegenseitig beeinflußt und befruchtet: Propheten und Philosophen haben immer schon Ideen von anderen geborgt. Ich habe mal geträumt, vier riesige Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Spielfelder seien an je einer Ecke zu einem gigantischen Vierer-Spielfeld miteinander verknüpft, und auf den Feldern machten in weiter Entfernung verschieden gefärbte Völker ihre Reisen rundherum, und es war gegen alle Vernunft, daß man andere schlagen müßte oder sollte, denn wer geschlagen wurde, mußte ja das Feld verlassen und den ganzen Weg von neuem gehen, und der Weg war so lang, und jeder mußte ihn gehen, ich konnte die Anstrengungen fast mitempfinden. Daß wir nun so miteinander verknüpft sind und uns gegenseitig befruchten, bedeutet auch, daß es keine „reine” Lehre gibt.

»Et si c’est un homme/Si c’est un homme« – „Und wenn es ein Mensch ist/Wenn es ein Mensch ist” heißt am Ende der zweiten, dritten und letzten Strophe. Ich werde nochmals daran erinnert, daß es hier um Menschen geht, Menschen wie mich. Ohne andere Menschen wäre das Leben sinnlos (und überhaupt unmöglich), dabei spielt es keine Rolle, was dieser Mensch glaubt oder meint. Es geht darum, daß ich erkenne, wie wertvoll, unverzichtbar und lebensnotwendig der Andere für mein eigenes Leben ist. Wenn ich das erst einmal verinnerlicht habe, denke ich, reagiere ich ebenso wie Mylène Farmer: Ich möchte mit ihm über Liebe sprechen, ihn lieben lernen, mich mit ihm „wiedervereinigen”, denn es gibt so vieles (auch neben der Fähigkeit, andere Menschen zu lieben), das wir gemein haben. Die Liebe ist für Mylène hier eine besondere Liebe: »L’amour à volonté« – „Die Liebe auf freiwilliger Grundlage/aus freien Stücken”. Man kann nicht gezwungen werden, jemanden oder etwas zu lieben. Liebe ist ohne Freiheit gar nicht denkbar, ohne Entscheidungsfreiheit, Meinungsfreiheit überhaupt nicht möglich. Damit findet sich ein weiteres anti-ideologisches Element in »Souviens-toi du jour«, denn Ideologie bedeutet Beschneidung oder Verneinung von Freiheit. Das paßt auch gut zu den Aussagen von Mylène, die sie im Interview mit der Zeitschrift »TeleMoustique« machte: sie möchte das Leben in der Freiheit, das Leben ohne Zensur und Herrschaft unbedingt verteidigen. Denn ohne Freiheit gibt es keine Liebe.

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