Anmerkungen & Gedanken zu Mylène Farmers «Optimistique-moi»
von Peter Marwitz


Bei «Optimistique-moi», der vierten Singleauskoppung aus «Innamoramento», zeichnet Mylène Farmer das erste Mal in ihrer Karriere bei einer Single sowohl für den Text als auch für die Musik verantwortlich. Übrigens halte ich dieses Lied außerdem auch für einen der absoluten Höhepunkte auf ihrer Mylenium-Tour, aber das nur nebenbei. Viele Leute (ich gehöre zu ihnen) waren nach einer ersten Betrachtung des Textes der Meinung, daß Mylène hier das Thema Inzest aufgreift. Zumindest eine von außen kommende, bedrohliche und männlich-sexuelle Kraft taucht bereits in einigen früheren Songs von ihr auf, so in «L’Annonciation», «Vieux bouc» und dem «Plus grandir»-Clip. Aber reiht sich «Optimistique-moi» wirklich hier ein oder täuscht der erste Eindruck? Mylène selbst, in einem Interview auf den Text angesprochen, war offenbar unangenehm berührt und wich einer Antwort aus. Das läßt mich als Außenstehenden vermuten, daß das Lied in einen persönlichen, intimen und mit belastenden Erinnerungen verbundenen Bereich hineinreicht. Tatsache ist, daß ihr Vater 1982 starb, als sie 21 Jahre alt war, daß sie ihm (angeblich) die sehr traurigen Lieder «Dernier sourire» (das sie auch auf der letzten Tour spielte) und «Ainsi soit je» sowie das «Tristana»-Video gewidmet hat, und sie 1996 im Vogue-Gespräch mit Amélie Nothomb meinte: «Ich habe erst spät erkannt, wie wichtig er mir war.» Dies klingt eigentlich nicht unbedingt danach, als wenn Mylène unter ihrem Vater gelitten hat, wenngleich ihre Formulierung natürlich vage genug ist, um der Spekulation freien Raum zu geben. Vor diesem Hintergrund erscheinen dennoch leichte Zweifel an der spontanen Inzest-Interpretation von OM angebracht zu sein. Passend zum Wortspiel im Titel selbst umgibt sich der Text also mit einer etwas mystischen Aura, bei der vieles in der Schwebe gelassen wird, und wie so oft bei Mylène Farmers Werken bieten sich auch hier verschiedene Deutungsmöglichkeiten an.

Sehen wir uns den Text nun einmal genauer an. Er besteht aus eine Zwiegespräch des lyrischen Ichs mit einer (oder mehreren?) nicht näher spezifizierten Personen, angedeutet durch die Äußerungen in Anführungszeichen. Bei dem Refrain scheint es sich um eine Art Rückblende oder Erinnerung zu handeln, da er mit «Papa ist nicht so gewesen, als...» und «... war schurkiger als...» eingeleitet wird. An diesen Zeilen entzündet sich wohl auch der erste Verdacht in bezug auf die Inzest-Thematik, zumal hier das erste Mal im Gedicht eine Person oder eine Figur angesprochen wird. Unter diesem Blickwinkel wäre der Dialog in den Strophen derjenige des lyrischen Ichs (von Mylène?) mit seinem/ihrem Vater. Dieser Vater wirkt abweisend, ihm sind die Gefühle des Kindes gleichgültig und er empfindet dessen Anhänglichkeit als lästig, als unangenehme Fessel. Der Refrain verhärtet dann die Vermutung, daß es um Inzest gehen könnte. Der Text weist hier eine leicht sexuell getönte Färbung auf, die sich in der blumigen Formulierung mit den «feuchten Blütenblättern» oder auch in dem doppeldeutigen «komm mir zurück» zeigt. Und auch die Gewalt kommt ins Spiel – der Kuß, der «aufgedrückt» wird, hat etwas unfreiwilliges, etwas, das einem gegen den eigenen Willen geschieht, vielleicht ausgeführt von einer Macht, einer Kraft, gegen die man sich nicht wehren kann. Eine Machtverteilung, die in der Konstellation Vater–Tochter bzw. ganz allgemein Eltern–Kinder ja durchaus von Natur aus angelegt ist. Die «blauen Flecke», die Mylène erwähnt und das Wortspiel «alles schlägt» korrespondieren wiederum mit der Vorstellung, die einem in dem Zwiegespräch in den Strophen vermittelt wird – ein nicht gerade liebevoller Vater, der offenbar sogar Schläge austeilt. Dennoch scheint das lyrische Ich sich immer wieder zu ihm hingezogen zu fühlen, um von ihm Trost und Zärtlichkeiten und zu erhalten. Ich meine, mich dunkel erinnern zu können, einmal über das Thema Gewalt in der Familie gelesen zu haben, daß es nicht ungewöhnlich ist, daß es Phasen der liebevollen Zuwendung und der tiefen Reue über das begangene Unrecht bei den betreffenden Elternteilen gibt, die dann ganz plötzlich mit Gewaltausbrüchen abwechseln. Daß solch ein schizophrenes Verhalten gerade durch die Autoritätspersonen, durch die natürlichen Vorbilder ein Kind verwirren muß, ist klar. Und ein solch zerrissenes Bild spricht auch aus diesen Zeilen. (Einige weitere Überlegungen zum Thema «Inzest» gibt es in
Benjamin Thirys Ausführungen zum «Je te rends ton amour»-Video.)

An dieser Stelle im Lied kommt auch die Wortschöpfung aus dem Titel ins Spiel: Mylène erhofft sich von dem Vater nämlich zudem Optimismus, also Hoffnung auf eine bessere, angenehme Zukunft für sich – und gleichzeitig klingt das „Mystische” nach einer Verklärung, einem Einhüllen der dunklen Vergangenheit in einen mildtätigen Nebel, durch den die bösen Erinnerungen (oder vielleicht auch die Gegenwart?) verdeckt und vermeintlich entschärft werden. Das Wort französische Verb «mystifier» kann – analog zum Englischen «mystify (me)» – jedoch genauso «narren» oder «täuschen» heißen, und dann wäre der Optimismus, den der Vater verbreiten soll, nur eine Täuschung, eine Illusion, irgendwie Hokuspokus, eben „mystisch”.

Und offenbar zeigt diese Optimystik nun im weiteren Gedicht ihre Wirkung – klingt die erste Strophe noch nach einem halbwegs „normalen”, alltäglichen Dialog zweier Menschen, so ist der Stil in der zweiten Strophe deutlich sonderbarer, weniger konkret, mit traumartiger und christlicher Symbolik gefüllt. Es ist von «Teufeln» die Rede (der «Schurke» in der letzten Zeile ist ebenfalls eine Umschreibung für den Teufel), von «Pontius Pilatus» (dem römischen Statthalter, der Jesus Christus ans Kreuz nageln ließ), von «Himmelszeichen» und von «scharlachrotem Wasser». Besonders letzteres erscheint mir interessant – hier wird die Farbe rot, bei der ich spontan an Liebe und Blut denke, mit einer Krankheit verknüpft. So, als wenn es um eine krankhafte Liebe geht – wieder ein Hinweis auf Inzest...? Handelt es sich beim «scharlachrotem Wasser» vielleicht um Blut? Um das Blut, das bei der in der vorangegangenen Zeile angesprochenen Kreuzigung des lyrischen Ichs, das sich hier offenbar in einer Märtyrerrolle sieht, vergossen wurde? Es mag übrigens reiner Zufall sein, aber eine der meines Wissens seltenen Momente, in denen diese spezielle Farbe sonst noch Erwähnung findet, ist ausgerechnet in der Erzählung «Die Maske des roten Todes» von E.A. Poe, auf die Mylène Farmer bereits 1988 im Lied «Allan» anspielte. In Poes Geschichte ist eine der Figuren scharlachrot verkleidet und stellt die Seuche dar, die den gesamten Landstrich verheerend heimsucht und die Menschen rettungslos ausbluten läßt.

Bei näherer Betrachtung des Textes ist jedoch noch eins auffällig: Der Dialog in den Strophen eins und zwei muß sich keineswegs zwangsläufig zwischen Vater und (z.B.) Tochter abspielen. Gerade die Überleitungszeilen zum Refrain («Papa ist nicht so gewesen...») klingen eher danach, als wenn sich das lyrische Ich hier im Gespräch mit einer anderen ihr nicht wohlgesinnten Person befindet und dieser etwas über ihren «nicht so» seienden Vater, über frühere Erlebnisse mit ihm, erzählt. Und auch der Refrain selbst ist nicht zwingend eine Anklage gegen den Vater (oder eine Vaterfigur, eine Autoritätsperson), da man den Text letztlich auch ganz harmlos als die Bitte nach dessen Nähe und Unterstützung auffassen kann. Möglicherweise findet das Zwiegespräch des lyrischen Ichs auch nicht mit einer konkreten Personen statt, sondern mit inneren Dämonen, mit widerstreitenden Persönlichkeitsteilen o.ä.

An dieser Stelle möchte ich einen Abstecher in den Bereich der visuellen Unterhaltung machen – Mylène beglückt uns natürlich auch zu dieser Single mit einem Videoclip, und einem sehr schönen, sehr gelungenen zudem. Dieses Mal hat sie Michael Haussmann mit der Umsetzung ihrer Ideen betraut, der bereits Madonnas «Take a bow»-Video realisierte. Die Geschichte des Clips spielt in der Manege eines Zirkus, Mylène ist eine Seiltänzerin, die zu Beginn, von dem Zirkusdirektor per Megaphon lauthals (als Attraktion?) angekündigt, über ein viele Meter über dem Boden gespanntes Seil gehen muß. Um sie herum brodelt das sonstige Zirkusleben, viele Artisten führen ihre Kunststücke auf, schenken ihr dabei aber nur bedingt Beachtung, allerdings wird sie durch ein paar kleinwüchsige Männer die ganze Zeit über vom Boden aus mit Handscheinwerfern angestrahlt. Als über ihr ein Trapezkünstler entlangschwingt, gerät Mylène ins Schwanken, aber schafft es gerade noch, das Gleichgewicht zu behalten und einen Absturz in die (nicht durch ein Netz gesicherte) Tiefe zu verhindern. Sowohl der Direktor als auch eine für einen Messerwerfer auf eine runde Scheibe gefesselte Frau lachen über Mylènes Beinahe-Ausrutscher. Der einzige, der Mitgefühl zeigt und offenbar auch mit ihr leidet, ist ein junger Mann im Smoking, vielleicht Anfang 30, der sie am Ende des Seils erwartet und ihr aufmunternd zulächelt und -nickt. Mylène behält diesen Mann fortan immer im Blick, wirkt aber nach wie vor alles andere als glücklich, eher verloren und angestrengt. Am Ende des Seils wird sie mit Hilfe des Rüssels eines Elefanten wieder näher in Richtung Boden gebracht. Allerdings ist Mylène noch nicht erlöst, sie muß jetzt auf einer großen weißen Kugel balancieren und diese mit ihren Füßen vorwärts bewegen, ohne herunterzufallen. Dabei sitzt ihr nun ein Affe als Begleiter auf der Schulter (mit solch einem Affen lebt Mylène übrigens auch im „richtigen Leben“ zusammen). Hier wird im Clip eine Szene mit einem Raubtierkäfig eingeblendet, in dem ein Dompteur mit der Peitsche knallt und einige Löwen fauchen und mit den Tatzen an den Gitterstäben rüttelt. Es folgt eine Überblende auf Mylène, die in genau der Pose wie der Löwe zuvor im Käfig sitzt und die Hände wie Pranken an den Stäben hält. Dann folgt wieder ein Kameraschwenk zurück auf die immer noch auf der Kugel balancierende Mylène, die jetzt in den Bereich des Messerwerfers kommt und dort von einigen Messern nur knapp verfehlt wird. Schließlich trifft ein Messer die Kugel, der daraufhin wie ein Ballon die Luft ausgeht. Mylène gleitet zu Boden und steht jetzt Aug in Auge mit dem jungen Mann, der der Zauberer des Zirkus ist. Einige Männer tragen eine große rote Kiste herein, der Zauberer vollführt mit den Händen einige Beschwörungsgesten vor ihrem Gesicht, er und sie lächeln. Dann steigt sie in die Kiste, die geschlossen und anschließend vom Magier und seinen Helfern mit langen Schwertern durchstoßen wird. Bei jedem Dolchstoß zuckt eine Gruppe von Pantomimen theatralisch zusammen, diese Szene erinnert an die das Geschehen kommentierenden Chöre in griechischen Tragödien. Als alle Schwerter durch die Kiste gestochen sind, spricht der Magier weitere Zaubersprüche und „verhext“ die sich zu Drehen beginnende Kiste. Schließlich kommt die Kiste zum Stillstand und sie öffnet sich – einige weiße Tauben fliegen heraus, ansonsten ist sie leer. Wieder gibt es eine direkte Überblende von den weißen Tauben zu umherwirbelnden weißen Papierschnipseln auf einer Straße, an dessen Rand Mylène steht. Alle Zirkusleute laufen staunend zu der leeren Kiste und können es nicht glauben, daß Mylène verschwunden ist. Der Magier steht daneben und lächelt still in sich hinein. Er dreht sich zum Fernsehzuschauer um und verwandelt sich dabei in einen alten, weißhaarigen Mann. Der Clip endet damit, daß Mylène auf der Ladefläche eines Kleinlasters steht, lacht und gen Horizont davonfährt.

«Das Leben, der Tod, das ist ein Drahtseilakt, jeden Moment kann man kippen.» – Diesen weisen Satz äußerte ein (mir namentlich leider nicht bekannter) Moderator des französischen Senders Radio Scoop in seinem Interview mit Mylène Farmer. Ich finde, diese Aussage paßt auch ganz hervorragend zum OM-Video, in dem wir Mylène auf einem Seil balancieren und schwanken sehen. Der Drahtseilakt wird hier um so lebensnäher, als daß er ohne Netz und doppelten Boden stattfindet – wie das wirkliche Leben auch. Manches Element des Textes finden wir im Clip kunstvoll umgesetzt und illustriert. So z.B. das «Ich kümmere mich nicht um Deine Herzensangst», was genau dem Verhalten der meisten Zirkusleute entspricht, die Mylènes Kämpfen ums Gleichgewicht auf dem Seil nur spöttisch betrachten oder als bloße Unterhaltung sehen («sie haben mich genährt»). Allgemein scheint der Zirkus hier für etwas Einengendes zu stehen (besonders deutlich wird dies am Raubtierkäfig), er symbolisiert wohl auch Angst und Unbehagen und die im Lied besungene Hilflosigkeit. Der Magier verzaubert Mylène schließlich, macht sie «optimystisch», und befreit sie aus diesem Umfeld, das sie wie ein Gefängnis zu empfinden scheint. Dadurch gelingt es ihr, ihre Vergangenheit, den Zirkus, hinter sich zu lassen und frei ihres Weges zu gehen. Der Zauberer selbst unterliegt am Ende auch einer „mystischen” Verwandlung, nämlich der vom jungen zum alten Mann, welcher den «Papa» aus dem Text darstellen könnte. Es ließe sich nun natürlich vortrefflich darüber spekulieren, ob der Zirkus vielleicht für das Familienumfeld steht oder eher für „die Gesellschaft” im Allgemeinen oder unter Umständen auch für eine Kombination aus beidem – oder gar für das „Show-Business”, mit dem Mylène sich als Sängerin rumschlagen muß. Wir werden’s vermutlich nie erfahren... ;-)


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