Artikel über «Optimistique...» aus dem Mylène Farmer-Magazine no. 14 (2000)
(Übersetzung von Peter Marwitz)


(...) Man weiß es, Mylène liebt es mit Worten zu spielen, und das seit dem Beginn ihrer Karriere, so wie bei Ainsi soit je... vom gleichnamigen Album oder Eaunanisme von Anamorphosée. Die Quelle des neuen Titels muß man in Shakespears Sprache suchen, denn das Verb „s’optimistiquer” („sich optimisieren”) existiert im Französischen nicht und nur das englische Wort «optimistic» kommt dem Liedtitel nahe. Mit seiner Hilfe wird eine Bitte von seiten Mylènes ausgedrückt, ein Verlangen nach Zärtlichkeit, nach Trost, aber vor allem ein Bedürfnis nach Schutz. Trotzdem ist es unmöglich, diesen Text zu hören, ohne an Inzest zu denken, auch wenn er zu keinem Augenblick direkt angesprochen wird. Aber was sagt der Refrain «Qu’aussitôt tes câlins cessent toute ccchymose» («Beenden Deine Schmeicheleien/Zärtlichkeiten sofort alle blauen Flecke»), wo man praktisch das Wort «Inzest» hört? Was bedeutet diese «kleine Rosenknospe», mit diesen «feuchten Blütenblättern», die unweigerlich die jungfräuliche Frische eines Kindes hervorrufen? Wie soll man diese «Zärtlichkeiten» interpretieren, diese Worte, daß «Papa ganz leise gesagt hat»? Und dann diese Frage «Ist das die Liebe? Was ist die Liebe?» wo «die Liebe fern ist!» ... Handelt es sich nicht um das Dilemma der Kinder, die Opfer inzestuöser Beziehungen sind, die Orientierungspunkte zwischen Liebe und Sexualität, zwischen Zurückweisung und Schuld suchen? Das Geheimnis gehört untrennbar zu Mylène, und wird immer untrennbar zu ihr gehören...

Durch diesen Text, mit seinem sog. „up tempo”-Rhythmus und arabischen Anklängen, wird das Thema der Kindheit in Form eines Trios ein weiteres Mal behandelt: der Vater, die Mutter und ihr Kind. Es ist sicherlich nicht angebracht, sich aufs neue über das Leiden und den Verlust der Unschuld auszulassen, sondern vielmehr sich an die konfliktreichen Augenblicke zu erinnern, die jedes Kind in einer Phase seines Lebens kennt, dieses irrationale und unmögliche Verlangen hervorzurufen, sich an diesen Optimismus zu klammern, der manchmal grausam fehlt. «Komm mir zurück!» ... Außerdem „dekliniert” Mylène das Thema der väterlichen Liebe mit Hilfe dieses Textes, nachdem sie ihm (dem Vater) «Laisse le vent emporter tout» und das herzzerreißende «Dernier sourire» gewidmet hat.

Die Verse sind wie ein Dialog gestaltet... «Ich schere mich einen Dreck um Deine Herzensangst/Hilflosigkeit, ebenso wie um alles, wie um den Rest... Ich schere mich einen Dreck um Deine Ängste, sie haben mich genährt, aber ermüden/langweilen mich...», so sind die Aussagen einer Mutter, die die Ängste und Probleme ihrer Tochter nicht mehr erträgt, die nicht versteht, warum diese sich langsam in eine eigene Welt zurückzieht, aus der nur die Rufe der Verzweiflung dringen. Sie löst sich nach und nach von ihrem Kind, sie verabscheut ihre «Ich liebe Dich»’s, weil sie «Schreie» sind, die anketten, die sie davon abhalten, zu leben. Sie tritt von diesen Leiden/Zuneigungen zurück, die Ausdruck von Sanftheit und Zärtlichkeit sind. Sie will diese Liebe nicht mehr, sie ist zu schwierig zu ertragen, sie beharrt darauf, ihr Kind abzulehnen, das sich schließlich fragt, ob die Liebe nicht im großen und ganzen ein täuschendes Gefühl sei, eine einfache Emotion ohne große Bedeutung, das die Erwachsenen pervertiert haben, «... Insgesamt bin ich rührselig/pathetisch».

Aber ihr Vater hält Wache. Er ist niemals sehr fern. Er heilt die Qualen seiner «kleinen Rosenknospe», indem er ihr einen Kuß gibt/aufdrückt, welcher ihr, auch wenn alles schlecht läuft, die Lebensfreude und auf jeden Fall die Lust zu lieben wiedergibt: «Optimistifizier mich, Papa... Optimistifizier mich, wenn ich friere». Dank dieser Aufmerksamkeit kann Mylène der Außenwelt begegnen, sie kann ihrer Mutter die Stirn bieten, die sich nicht um ihre Dunkelheiten schert, um ihre morbidesten und fürchterlichsten Albträume. «Achte nicht auf die Himmelszeichen/-erscheinungen, nur die Fakten sind Dein Brevier». Sie verhüllt die Augen, zieht es vor, die Handlungen der Vergangenheit zu predigen um die Wunden der Gegenwart zu maskieren, die nur verlangen, zu vernarben: «... genug der Geschichten, Deine Vergangenheit ist Vorgeschichte»! Sie verleugnet die Wesensart ihres Kindes, während ihr «schurkiger» Vater sie mit seiner Liebe umgibt! Ihre Mutter will nichts sehen...

Die Erwähnung von Pontius Pilatus ist nicht unbedeutend, denn er war es, der das Urteil der Kreuzigung Jesus Christus in der Bibel verkündete. «Ertränke Dich im scharlachroten Wasser». Es gibt nichts wirkliches mehr zwischen dieser Mutter und ihrer Tochter, «die Liebe ist fern...». Die Sorgen und die Leiden von Mylène sind die «blauen Flecke», die nur ihr Vater lindern kann. All dies hat einen Geschmack von «Je suis ta mère, je suis ta mère et tu es ma fille / Je suis pa ta fille, je suis pa ta fille et tu n’es pas ma mère!» («Ich bin deine Mutter, ich bin deine Mutter und du bist meine Tochter / Ich bin nicht deine Tochter, ich bin nicht deine Tochter und du bist nicht meine Mutter!» – diese Zeilen stammen aus der 89er Live-Version von «Maman a tort»; Anm. P.M.) Nutzlose Kämpfe... Leider holt der Tod ihren Wohltäter, den Vater, ein, und sie bleibt alleine zurück. (...)

«Die Abwesenheit ist Gott. Gott, das ist die Einsamkeit der Menschen». So hat Sartre das Abtrünnigwerden von Gott im Angesicht der Menschheit/Menschlichkeit angezeigt. Der Mangel an mütterlicher Liebe hat Mylènes Leben und ihre Karriere wie ein Brandzeichen geprägt, die ein „Sprachrohr” einer Generation geworden ist, die von Ernüchterung & Desillusionierung verfolgt wird. In der Tat, «was ist sie, die Liebe?»

David Marguet & Cédric Torregrosa-Autran

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