Anmerkungen & Gedanken zu «L'amour naissant»
von Peter Marwitz


«„Erwachende Liebe”, oh wie schön, das ist aber mal ein angenehmer Titel für ein Lied, wie könnte man ein Album besser beginnen? Das läßt einen doch sofort an den Frühling denken, an die dazugehörigen Gefühle, ans Kribbeln im Bauch, an Schweben auf Wolke Sieben, an Tanzen über grünbeblümte Wiesen...» So oder so ähnlich könnte die naive, blauäugige Reaktion desjenigen aussehen, der zum ersten Mal auf die Titelzeile von Mylène Farmers Lied «L’amour naissant» stößt. Doch Obacht! Ein eisiger Hauch weht durch diesen Text! Die melodische, harmonische, von Naturgeräuschen umspielte Musik kontrastiert merklich mit dem bitteren, gar nicht so frohgemuten Inhalt. Nicht zum ersten Mal führt Mylène die Hörerschaft ein wenig aufs Glatteis und in die Irre – man denke nur an «Chloé» aus dem Jahre 1986, wo sie zur scheinbar harmlosen Musik eines Kinderliedes über den (gewaltsamen) Tod eines kleinen Mädchens singt. «L’amour naissant», das ist nicht nur die französischsprachige Umschreibung des italienischen Begriffs «Innamoramento» («Sich verlieben»), der dem Album seinen Namen gegeben hat, nein, «L’amour naissant» (LAN) ist auch so etwas wie der dunkle Zwilling, die düstere Seite, die Rückseite des Songs «Innamoramento», der an späterer Stelle auf der CD folgt. Gewinnt in «Innamoramento» letztlich, trotz zähen Ringens, doch die Hoffnung die Oberhand, so klingt LAN noch verzweifelt, traurig, einsam.

Für Mylène Farmer war die Liebe schon seit jeher keine ungetrübte Freude, sondern ein zweischneidiges Schwert, das macht dieser Text erneut deutlich. «Sie ist eine Mischung aus Euphorie und Furcht», wie Mylène bereits 1988 im Interview mit der Zeitschrift «Rock News» bekannte – und die höheren Sphären, in die sie einen heben kann, tragen gleichzeitig die Gefahr eines tiefen Absturzes mit sich. Damit greift Mylène die Gedanken von Francesco Alberoni auf, dem italienischen Schriftsteller, den sie zu Beginn ihres CD-Booklets zitiert und der das sie inspirierende Buch «Innamoramento e amore» geschrieben ha. Auch der an einen Militärmarsch erinnernde Trommelwirbel, der die ersten Takte des Songs bestimmt, zeugt bereits davon, daß – um es mit den Worten des Moderators von «Radio Scoop» zu formulieren, der Mylène im April 99 interviewte – «es sich bei dieser Liebe, die geboren wird, um eine Schlacht handeln wird, der man zum Opfer fallen kann».

Nicht ohne Grund wird Mylène «L’amour naissant» an den Anfang dieses Albums gesetzt haben – wann hätte sie schon mal je etwas „einfach nur so” gemacht?? Es dürfte also kein Zufall sein, daß ausgerechnet dies der (düstere) Ausgangspunkt für die Reise wird, auf die uns Mylène in den insgesamt 13 Liedern mitnimmt. Das Bild der Reise wird übrigens durch die Meeresgeräusche unterstrichen, und durch die afrikanischen Chöre, die sowohl hier als auch im letzten Lied «Mylenium» zu hören sind und der CD damit einen Spannungsbogen, einen Rahmen geben. Außerdem entdeckt man im Booklet noch einige Andeutungen, wie Postkarten und Schnappschüsse, die die Verbindung des «Innamoramento»-Albums mit einer Reise, einer Überfahrt, nahelegen. Der Super-Deluxe-Promo-Version des Albums liegt überdies ein Reisetagebuch bei – ein deutlicher Wink mit dem Zaunpfahl, zumindest für diejenigen, die einen Sinn für Mylènes Hang zur Metapher und zum Symbolischen haben... Und sie liebt es zu reisen, folglich ist es nur natürlich, daß sich dies auch in ihren Werken ausdrückt. In LAN findet speziell Irland Erwähnung, sowohl direkt (in der 3. Strophe) wie auch über «Ryans Tochter», diesem in Irland spielenden Monumentalfilm.

So sticht Mylène also von einer Insel – vielleicht im übertragenen Sinne einer „Verinselung”, Isolierung, Zurückgeszogenheit – aus in See, auf zu neuen Ufern... Ganz offensichtlich findet im Laufe der CD und der Reise eine Entwicklung statt, von der verzweifelten Grundstimmung in «L’amour naissant» hin zur etwas erwartungsfroher in die Zukunft schauenden von «Innamoramento». In LAN ist von dieser Hoffnung aber noch wenig zu spüren. Vielmehr wird der Gedanke an den Tod mehr als einmal hervorgerufen – sei es durch die «Grabsäule der Liebenden», «in Stein gemeißelt», die einen schmerzlich daran erinnert, daß das Eingehen einer neuen Liebe mit der Furcht vor dem Scheitern, dem Verlassenwerden verbunden ist. Sei es durch die «beweinten Kinder» (diese Formulierung klingt für mich so, als wenn es um verstorbene Kinder ginge, die von den Angehörigen betrauert werden) oder durch den «Atemhauch des Nichts», der den Ozean (zu)frieren läßt, und das lyrische Ich ebenfalls, ertränkt in diesem Meer aus Tränen. Die erwachende Liebe wird hier also absolut noch nicht als erhebendes Gefühl empfunden, sondern als etwas, vor dessen Kraft man erzittert – ja, Mylène vergleicht diese Liebe gar mit einem Revolver, einem Tötungswerkzeug, das große Macht besitzt, und mit dem man Menschen verletzen und umbringen kann, womit sich der Kreis zur «Grabsäule» schließt. Unwillkürlich fragt sich der Hörer, welche schlimmen Erfahrungen Mylène Farmer gemacht haben muß, daß sie zu solch drastischen Metaphern greift. Doch darüber gibt «L’amour naissant» offensichtlich keine weitere Auskunft, man muß sich noch eine ganze Weile gedulden, damit Licht ins Dunkel dringen kann.




Weitere Anmerkungen zu «L’amour naissant» von Iris Kyburz


Brandungsrauschen im Intro, Musik die zum Träumen einlädt, Mylènes silbrighelle Stimme, dazu ein verheissungsvoller Titel, doch meine hoffnungsfrohe Erwartung, Mylène in einem ihrer Lieder endlich einmal unbeschwert verliebt zu begegnen, lösen sich gewissermassen in Meeresschaum auf, ein Frösteln befällt mich beim Lesen des Textes, und ich hülle mich frierend in meinen imaginären schwarzen Schal. Aber hatte ich es wirklich anders erwartet? Würde ich mich nicht enttäuscht von Mylène abwenden, wenn der Text ein farbenfroh-simpler wäre?

In der ersten Strophe erleben wir mit Mylènes Fragen gewissermassen ein Wechselbad der Gefühle, fühlen uns in einen Reigen der Sinne versetzt. Vom Atemhauch des Nichts über die Mächte des Innern, vom Beweinen des Kindes zum Engel, der angesichts der Schönheit fällt, spüren wir in einem Auf und Ab einen Grossteil der Extreme, die ein menschliches Gefühlsleben prägen können. Hängen bleibe ich an der Frage nach dem Haus, welches nie ein Kind beweint hat. Mein erster Gedanke gilt dem Tod, dem Tod eines geliebten Kindes, was in der Gesellschaft als vielleicht das grösste Unglück gilt, das eine Familie treffen kann. Kann man aber nicht auch ein Kind beweinen, das einem nicht durch den Tod, sondern durch ein Ereignis (vermeintlich) genommen wird, das man wegen seines nicht den geltenden Gesellschaftsnormen entsprechenden Handelns aufgibt, verstösst? Ist dies die Spur, die Mylène auslegt, wenn sie in der Folge fragt: "Welcher Engel ist nicht vor der Schönheit des Abendrotes oder des Schlafenden, beide Übersetzungen sind möglich, gefallen?" In gewissen, gefühlsbestimmten Momenten kann jeder Engel zum Menschen mit Schwächen werden. Zum Menschen, der sich seinem Empfinden hingibt, der den Mächten seines Innern Raum lässt.

Mit zunehmender Intensität der Musik wächst dieses Gefühl an zum besitzergreifenden Taumel, zur bedingungslosen Hingabe, doch dann das Innehalten, die Besinnung auf Kirche und Schwüre, das Nachfragen: "Ist das beunruhigend, sag?" Hältst du das aus? Und die in eine Frage verpackte Behauptung, dass sich jede Frau schon in ihren Tränen ertränkt hat. Gibt es in Mylènes Welt speziell für Frauen kein dauerhaftes Glück, oder beschreibt sie es ganz einfach aus dieser Perspektive, weil sie selber eine ist und dadurch schlecht beurteilen kann, wie es um das Erleben aus Männersicht bestellt ist? Erstarrt ist aller Taumel, vergessen die Wärme oder Hitze, die eben noch allgegenwärtig war, Kälte ist aufgezogen. "Der Ozean friert" ist für mich eine sehr mächtige Aussage, steht doch das Meer für einen riesigen Lebensraum, den der Mensch zwar verschmutzen kann, den er aber nicht entscheidend zu erwärmen oder abzukühlen vermag. Sogar die Elemente beugen sich also dem Einbruch der Kälte. Darauf folgt die Aussage "mein Leben wie Ryans Tochter". Aus dem berauschten "Unser" in der ersten Zeile dieser zweiten Strophe ist das einsame "Mein" am Schluss geworden, "mein Leben wie Ryans Tochter". Mit diesem Vergleich gibt uns Mylène weitere Bilder, Bilder von der Frau, die es wagt, sich ihren Gefühle und ihrem Liebhaber hinzugeben, weil sie dies mit ihrem älteren, stumpfen Ehemann nicht erleben kann, gegen die Kirche, gegen den geleisteten Treueschwur und somit gegen die vorherrschende Moral. Deshalb kann diese Liebe nicht von Dauer sein, gipfelt im Freitod des Geliebten, der sich die Schuld am Unglück von Ryans Tochter gibt. Äusserlich nimmt das geregelte Leben wieder seinen Lauf. Ist es dieses Leben, auf das Mylène anspielt, das Weiterleben mit einer grossen, bedrückenden Last, die gegen aussen sorgsam überdeckt wird? Vielleicht finden wir hier das Thema des beweinten Kindes wieder.

Welcher Widerspruch in den ersten Zeilen der dritten Strophe! Da ist die Rede von erwachender Liebe, die in den Stein gemeisselt ist, gewissermassen also im Keim erstickt wird, der Grabsäule der Liebenden, die verkündet, dass diese tot sind, erbarmungslos an Vergangenes erinnert. "Sieh, wie es schwer ist, es ist zögernd/langsam, es ist ein Revolver, Vater, zu mächtig." Ich glaube, hier Mylènes Aussage aus dem Interview mit «Le Matin» herauszulesen, wo sie vom langdauernden "Erlernen der Liebe" spricht. Sie geht aber noch weiter, mit dem bedrohenden, vielleicht todbringenden Revolver bringt sie ein schwer zu besiegendes Element und gleichzeitig auch Angst ins Spiel. Für welche prägenden Erlebnisse mag dieser Revolver stehen? Für mich stellt sich damit auch die Frage, ob es Erlebnisse sind, deren Urheber der Vater war, sie diese Worte folglich als Anklage an ihn richtet, ihm zu verstehen gibt, dass er derjenige ist, der ihr das sich den Mächten des Innern Überlassen so schwer macht. Oder sind es die hilfesuchenden Worte eines kleinen Mädchens, das sich mit seinen Angstträumen an den Vater wendet, so wie wir’s vom Knaben im "Erlkönig" kennen?

Es wäre nicht Mylène, die sich uns mitteilt, wenn sie uns nicht unmittelbar mit einem Hinweis auf Irland zurückversetzen würde an den Schauplatz der Handlung von "Ryans Tochter", damit gleichzeitig unsere Gedanken in eine andere Richtung lenkend, die vorherige Spur wieder aufnehmend, die vielleicht so verschieden gar nicht ist. Ein Irland, das seine Legenden verliert, verliert sich selber, genauso wie eine Frau, die ihre Gefühle nicht leben kann. Im Film geht es um den Verrat der Freiheitskämpfer, den Rosy Ryans Vater begonnen hat, um vom Skandal um die Liebenden abzulenken, der dann aber Rosy angelastet wird. Rechtfertigt sich mit dem Hinweis auf das Bewahren der Identität der Heimat die Bestrafung? Das Erzittern vor den Kräften des Innern ist hier am Schluss mit negativen Gefühlen, vielleicht Erinnerungen beladen. Gibt es ein Entkommen, ein Überwinden? Was in der Musik und im Titel so lebensbejahend und hoffnungsfroh klingt, bleibt mit den Worten stecken im Gefühl der Aussichtslosigkeit, der Kälte, der Einsamkeit und des ungelebten Lebens.

Wer den Text im Booklet nachliest, findet ihn geschmückt mit Blüten, frischen, zarten, die aber ohne Stängel, von der nährenden Pflanze abgerissen, unweigerlich zum Verdorren verurteilt sind. Daneben finden sich bereits getrocknete, die auf Papier geklebt an Herbariumblätter erinnern. Aber auch sie sind nicht etwa sorgsam gepresst, sondern wurden wahrscheinlich noch lebend lieblos aufgeklebt mit viel zu grossen, das Bild beherrschenden Klebebändern, was mich einmal mehr an eine Kreuzigung denken lässt. Das Bild des ungelebten Lebens wird also auch hier symbolisiert.

Sind diese, meine Gedanken und Überlegungen richtig oder falsch? Wenn ich Mylène richtig verstanden habe, spielt dies keine Rolle, indem ich mich mit dem Lied, seinem möglichen Inhalt auseinandersetze, bewege ich etwas in mir, finde ich, eine Anregung von Mylène aufnehmend, ein Stück von mir. Dass dabei alle meine Sinne angesprochen werde, macht mir die Künstlerin so einzigartig und unvergleichlich.

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