Anmerkungen zu «L’horloge»
von Peter Marwitz, 1993



Mylène Farmers vertonte Version des Baudelairschen Gedichtes «L’horloge» repräsentiert die stimmungsvolle und stilgerechte Einleitung zu ihrem Album. Dieses Lied setzt die dunkle, melancholische Grundatmosphäre des Textes sowohl musikalisch (eine von Boutonnats besten Kompositionen, meine Meinung) als auch vom Gesang her äußerst dicht und packend um – ein gelungener Auftakt also.
       Doch zunächst etwas zum Autoren des Gedichtes, zum französischen Schriftsteller
Charles Baudelaire. Einen ersten knappen Eindruck mögen uns folgende Zeilen aus dem Brockhaus vermitteln:

«Dichter, Kunstkritiker und Essayist, *Paris 9.4.1821, †ebd. 31.8.1867. Jugend- und Familienerlebnisse haben sein Schaffen stark beeinflußt. Berühmt wurde Baudelaire vor allem durch seinen Gedichtband „Les fleurs du mal“ (1857, dt.), der von der Spannung zwischen Ideal, geistiger Würde, Schönheit und Kreatürlichkeit, Verdammnis, Melancholie lebt. B. stellt die Suche nach sich selbst und dem Absoluten («spleen») in der Liebe, in Drogen, dem Phantastischen, dem Schönen, dem Bösen in makelloser Schönheit der Form dar. Er war Vorläufer des –> Symbolismus.»

Aha... zwei weitere Stichworte bzw. Querverweise springen ins Auge und verlangen unmißverständlich, daß ihnen nachgegangen wird. Da wären als erstes «Les fleurs du mal» («Die Blumen des Bösen»), aus denen im Übrigen auch «L’horloge» stammt, dort im Abschnitt «Spleen et idéal» («Trübsinn und Vergeistigung») zu finden. Somit drängt es sich geradezu auf, ein wenig über diese Gedichtsammlung, mit der eine neue Epoche in der Geschichte der europäischen Lyrik beginnen sollte, in Erfahrung zu bringen – eine Aufgabe, die ich den hochqualifizierten Verfassern von «Kindlers Literatur-Lexikon» überlassen möchte:

«Der Zyklus, dessen Entstehungszeit bis zum Beginn der vierziger Jahre zurückreicht, sollte, wie zahlreiche Einzelveröffentlichungen von Gedichten in Zeitschriften erkennen lassen, zunächst den Titel „Les Lesbiennes”, später „Les limbes (Die Vorhöfe der Hölle)” tragen. Sogleich nach dem Erscheinen des Bandes löste eine im Figaro veröffentlichte Rezension eine heftige öffentliche Polemik gegen Baudelaire aus, die sich wenig später in einem Prozeß fortsetzte, den der Autor und sein Verleger 1857 vor der sechsten Strafkammer in Paris zu bestehen hatten, ebenjenem Gerichtshof, der bereits zu Anfang desselben Jahres Flauberts „Madame Bovary” und Eugène Sues „Mystères du peuple” indiziert hatte. Baudelaire wurde wegen der „verderblichen Wirkung der Bilder, die er den Leser sehen läßt und die, in den beanstandeten Stücken, durch einen krassen und das Schamgefühl verletzenden Realismus notwendig zur Aufreizung der Sinne führen“ und wegen „Verhöhnung der öffentlichen Moral und der guten Sitten” zu einer Geldstrafe und zur Ausmerzung von sechs Gedichten verurteilt, ein Urteil, das erst 1949 (!) förmlich aufgehoben wurde.
       Baudelaires Fleurs du mal, die wie kaum ein zweites Werk des 19. Jahrhunderts die Entwicklung der modernen Lyrik bestimmt haben, gehen aus einer Grundspannung hervor, die man als „Spannung zwischen Satanismus und Idealität” bezeichnet hat. Sie deutet auf ein, wenn auch abgeschwächtes, Verhältnis zu christlich-katholischen Vorstellungsbereichen hin. Der blasphemische „Satanismus” Baudelaires korrespondiert zweifellos mit mittelalterlich-christlichen Denk- und Symbolfiguren, fällt aber keineswegs lediglich mit orthodoxen Glaubensinhalten zusammen. Der Begriff der Erbsünde wird von Baudelaire über seinen traditionell-religiösen Bedeutungsbereich hinaus erweitert: meint Erbsünde im christlichen Sinne den selbstverschuldeten Abfall des durch Adam repräsentierten menschlichen Geschlechts, so ist Baudelaire davon überzeugt, daß der Sündenfall, abstrakt als „Eintreten der Einheit in die Dualität” gefaßt, bereits Gott selbst aufzubürden sei, der sich an die Schöpfung „prostituiert” und damit seinen eigenen Niedergang vorbereitet habe.»

Bemerkenswert an obigem ist meines Erachtens zunächst einmal die Tatsache, daß die Gedichte zensiert und erst knapp hundert Jahre später vom Index genommen wurden – die Mühlen der Justiz mahlen eben manchmal recht langsam... Meinen spontanen Gedanken „Nun, sowas kann heutzutage natürlich nicht mehr passieren, wir leben doch in einer modernen und aufgeklärten Zeit” kann ich leider getrost auf die mentale Müllhalde werfen, denn daß das leidige Thema Zensur (also der irgendwie willkürlichen Bevormundung breiter Bevölkerungsschichten durch einige wenige Personen, die sich allgemeingültige Kompetenz in der Beurteilung von Kunstwerken anmaßen) auch am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts aktuell ist wie eh und je, zeigten mir nicht zuletzt die Reaktionen der französischen Medien auf Mylène Farmers (letztlich relativ harmlosen) Videoclip zu «Beyond my control», der von den selbsternannten Moralisten und ihren flugs erhobenen Zeigefingern unter Auffahren schwerster Geschütze („Reinhaltung der französischen Kultur”, „Schutz unschuldiger Kinder” und ähnliches Gesülze) geifernd angegriffen wurde, verbunden mit der Forderung nach Verbot dieses Werkes. Traurig, aber wahr.
       Bliebe im Rahmen der vorfeldlichen Sondierung und Umfeldsbeleuchtung noch der vorhin erwähnte Begriff des
Symbolismus mit Leben zu füllen. Ich übergebe nochmals an den weisen Brockhaus:

«Symbolismus, Bezeichnung für geistige Bewegungen, die sich auf symbolische Deutung oder Ausdrucksweise gründen. Der Name Symbolismus wurde erstmals in Frankreich 1886 für eine literarische Richtung verwendet, vor allem in der Lyrik, die auf Anregungen der dt. Romantik (Novalis) und des angelsächsischen Schrifttums (Poe) zurückgeht, zum erstenmal bei Ch. Baudelaire hervortrat und mit Paul Verlaine, Arthur Rimbaud und St. Mallarmé ihren Höhepunkt erreichte. In bewußter Abwendung vom Positivismus und vom naturalistischen Roman will der Symbolismus die Geheimnishaftigkeit von Welt und Seele durch eine Dichtung wahrnehmbar machen, die eine schwebende Atmosphäre des Irrealen erzeugt und mit ihrer kunstvollen Vieldeutigkeit weniger auf das Verstehen als auf die suggestive Empfänglichkeit des Lesers zu wirken bestrebt ist. Die Sprache wird in ihre assoziativen Kräfte aufgelöst, die wie die in ihr enthaltenen musikalischen Kräfte primär den Sinn des Gedichts bestimmen. In der bildenden Kunst reichen die Anfänge des S. bis ins 18. Jh. zurück, entstanden als Antithese zur Aufklärung (F. de Goya, W. Blake u.a.).»

Leicht verwirrender Stil, zugegeben, doch halbwegs instruktiv, denke ich. Übrigens trifft obige Definition des Symbolismus (irreale, schwebende Atmosphäre, kunstvolle Vieldeutigkeit) auch ganz eindeutig auf Mylène Farmers und Laurent Boutonnats Schaffen zu – womit wir endlich wieder zurück im Hier und Jetzt und bei «L'horloge» wären.

Dieses Gedicht beschreibt meiner Ansicht nach in sehr lyrischer, tiefgehender, bilderreicher Weise das Phänomen der scheinbar stets verrinnenden und unwiederbringlichen (Lebens-)Zeit. Dabei herrscht ein eher beklemmender Unterton vor, der beispielsweise in dem Bild des Insektes, das dem menschlichen Körper mit jeder vergangenen Sekunde wieder ein Stück seines Lebens heraussaugt, oder des Abgrundes, der den Menschen bereits gierig erwartet, besonders deutlich hervortritt. Auf der offensichtlichen Ebene des Textes wird die begrenzte Zeit, die einem jeden zugeteilt ist, als Bedrohung empfunden, jede Sekunde, die vorüberstreicht, ist wieder ein Teil des (Rest-) Daseins, das «zum Horizont enteilt» ist, unwiederbringlich dahin und verflossen. Baudelaires Gedicht erscheint also zunächst einmal als eine Schilderung der Zeit, die man mit dem unaufhaltsamen Herunterrieseln der Quarzteilchen in einer Sanduhr vergleichen könnte. Diese Analogie bedeutet aber gleichzeitig, daß mit jedem „Stück” Zeit, das aus dem oberen Teil der Uhr herausrinnt, im Gegenzug der untere Teil wieder ein wenig weiter gefüllt wird – ein neues Leben wird geschaffen, das in dem Moment startet, in dem die Uhr umgedreht wird.
       Bei genauerer Betrachtung enthält das Werk noch weitere – und meines Erachtens auch wichtigere – Elemente. Zum einen vermittelt es eindringlich das Gefühl, das einen überkommen kann, wenn man der Meinung ist, daß einem die Zeit, das eigene Leben (nutzlos) durch die Finger rinnt, da man sich mit eher unwichtigen Dingen herumschlägt und dabei seine inneren Ziele, seine umfassenden und übergeordneten Lebensvisionen aus dem Auge verloren hat (sofern man sich dieser überhaupt je richtig bewußt war). Ein Phänomen, das vermutlich häufig auftritt, wenn man beispielsweise Arbeiten verrichtet, nur weil man sie tun muß oder auf das Geld angewiesen ist, die aber letztlich die eigenen vitalen und tieferen Interessen und Neigungen unberücksichtigt lassen bzw. diesen gar entgegen wirken. Dieser Punkt wird von Mylène Farmer übrigens in «A quoi je sers...» noch ausführlicher beleuchtet.
       Daß Charles Baudelaire gerade diese Empfindungen von zeitlicher Enge in seinem Werk thematisiert, ist insbesondere vor dem Hintergrund seiner persönlichen Lebensgeschichte durchaus nachvollziehbar, denn er alterte früh und war von mehreren schweren Krankheiten geschwächt. Überdies erlitt er in seinen letzten Jahren auch einen Schlaganfall, von dem er sich nicht mehr erholen sollte. Wen wundert’s also, daß Baudelaire die Vergänglichkeit und die Begrenztheit des irdischen Daseins, die er am eigenen Leibe schmerzlich erfuhr, auch in seiner Dichtung zum Ausdruck brachte.
       Noch eine weitere Facette kann ich in «L’horloge» ausmachen: In den letzten Zeilen der vierten Strophe («Minuten, sterblicher Verschwender, das sind Zechen / Laß sie nicht aus der Hand, hol erst ihr Gold hervor!») kommt nämlich der Aspekt des produktiven Nutzens seiner Zeit zur Sprache. Demnach ist der Text für mich auch ein Appell, etwas aus seinem Leben zu machen, indem man die eigenen Ressourcen (und Zeit ist eine) sinnvoll und konstruktiv einzusetzen weiß. Anstatt also die Zeit totzuschlagen, sich zu langweilen und darauf zu warten, daß sich irgendwann mal was zum Guten ändert, ist es erfolgsversprechender, die Dinge in die eigene Hand zu nehmen und sein Leben selbst zu formen, auf daß einem die Welt besser passen möge...

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