«Giorgino» Deutungen & Analysen
von Peter Marwitz und Michael Kuyumcu
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Peters Ansatz, den Film in den Griff zu bekommen (Feb. 1995):
Was mich an «Giorgino» besonders beeindruckt hat, ist, wie es Boutonnat gelungen ist, viele kritische Untertöne und bissige Tiefschläge so organisch und subtil in die Handlung einfließen zu lassen, daß sie von der inneren Entwicklung, die Giorgio (und mit ihm der Zuschauer) durchlebt, dem symbolisch dargestellten Eintauchen in tiefe unterbewußte Schichten der Persönlichkeit, also von der wichtigsten Richtung, in die das Werk geht, nicht ablenken, sondern vielmehr die Wirkung noch verstärken und unterstützen. Dies führt dazu, daß man «Giorgino» mit einer einfachen Formel der Art ... eine Anklage gegen... oder ... eine Kritik an... nicht gerecht werden kann, da diese kritischen Elemente halt nur einen Teil des Gesamtkunstwerkes darstellen und somit für ein Verständnis oder gar tieferes Nachempfinden des Filmes meines Erachtens nur sehr begrenzt wenn überhaupt nützlich sind. Dennoch möchte ich im folgenden kurz einige der Themen Revue passieren lassen, die Boutonnat und Farmer in ihrem Werk (quasi nebenbei) aufs Korn nehmen.
Da wäre zunächst das ewigjunge Thema Krieg. Boutonnat gelingt es, auch ohne drastische Darstellungen von brennenden Häusern und im Kugelhagel verendenden und von Granaten zerfetzten Soldaten die Sinnlosigkeit kriegerischer Auseinandersetzungen, insbesondere für den einzelnen Menschen, vorzuführen. Beispielsweise dadurch, daß alle wehrfähigen Männer des Dorfes für ihr Vaterland kämpfen und fallen, der Ort damit praktisch die Hälfte der Bewohnerzahl eingebüßt hat (was dazu führt, daß das Dorf schließlich aufgegeben und verlassen wird) und dies nicht etwa für die Verteidigung vor einer konkreten Bedrohung des Ortes, sondern irgendwo in weiter Ferne auf dem Balkan, in einer Region, die für die Dorfbewohner vollkommen bedeutungslos ist. Genausogut könnten die Soldaten auch auf dem Mond sterben beim Versuch, möglichst lange ohne Sauerstoff Mondgestein auf der Nase zu balancieren: es würde keinen nennenswerten Unterschied machen. So ist die Heimkehr der Männer in Särgen und die auf dem Marktplatz stattfindende Verlesung der Namen der Gefallenen in Verbindung mit dem militärisch präsentierten Hinweis Gefallen für Frankreich («Mort pour la France», auf den Särgen steht deswegen der Aufdruck «MPF») eine der bittersten Szenen im Film, die den Zynismus eines Krieges meines Erachtens gut auf den Punkt bringt. Bei der Gelegenheit wird das Thema Patriotismus/ Nationalpathos auch gleich verarztet, denn sowohl der flammende Aufruf des Armeewerbers («Frankreich ist uns wie eine Mutter» eine nette Mutter, die ihre Söhne eiskalt in den Tod schickt) als z.B. auch der Hinweis «Sie sollten Ihre Uniform tragen, die Frauen stehen auf sowas», den Giorgio von einem Arzt erhält, oder die schäbig leiernde Nationalhymne zeigen, daß die ganze Angelegenheit mit Vaterlandsstolz, Militärethos etc. eine Farce ist.
Übrigens dürfte es wohl kein Zufall sein, daß Boutonnat die Soldaten ausgerechnet auf dem Balkan sterben läßt, denn in Jugoslawien spielt sich zur Zeit der blutigste Krieg im heutigen Europa ab. Außerdem zeigt es, daß sich in den fast 80 Jahren seit dem 1. Weltkrieg offenbar so viel gar nicht geändert hat, wenn dort immer noch Menschen für die Großmachtphantasien skrupelloser Potentaten abgeschlachtet werden.
Auch nicht viel besser kommen die Ärzte und ihre medizinischen Behandlungsmethoden im Film weg, denn die Ärzteschaft strahlt doch eine beachtliche Arroganz, gepaart mit einer gehörigen Portion Inkompetenz, aus. Insbesondere die Verhältnisse in dem Sanatorium Saint-Lucy das Verschwinden vieler Patientenakten, das Einsperren der schweren Fälle in den dreckstarrenden Keller, das Traktieren der Kranken in den eiskalten Wasserwannen verdeutlichen eine unmenschliche, unsensible und trostlose Einstellung der Mediziner gegenüber dem Phänomen Geisteskrankheit. Der schärfste Seitenhieb von Boutonnat gegen diese (im wahrsten Sinne des Wortes) Seelenklempner dürften aber sicherlich die rötlichen Wundmale am Hals der Insassen sein, die die Ärzte zur Markierung der Verrückten einsetzen es ist bezeichnend, daß man diese Markierung benötigt, um Verrückte von Normalen zu unterscheiden! Die totale Willkür der Einteilung der Menschen in gesund und krank kommt hierin wundervoll zum Ausdruck, wie ich finde, denn auch Giorgio, der sich die Wunde ohne sein Zutun zugezogen hatte, wird von den Klinikangestellten daraufhin ja sofort nicht mehr für ernst genommen, obwohl ihn der Klinikchef bei dessen ersten Besuch noch als hochgeschätzten Kollegen hofiert hatte. Michaels Kommentar dazu: «Die Wirkung unserer Behandlung zeigt an, wer hier verrückt ist». Oder wie schon der Volksmund sagt: «Psychoanalyse ist die Krankheit, für dessen Behandlung sie sich hält.»
Letztlich schildern Boutonnat und Farmer mit der Darstellung dieses Einstufens und insbesondere Aburteilens von Menschen nach rein äußerlichen Merkmalen gleichzeitig auch eine weitere menschliche Unsitte denn Rassismus basiert auf dem gleichen plumpen, diskriminierenden Prinzip (blonde Haare, blaue Augen => arischer Herrenmensch u.ä.). Mir fallen da die Judensterne ein, die Juden im Dritten Reich als Erkennungsmerkmal tragen mußten ähnliches müssen auch die Insassen des Sanatoriums Saint-Lucy über sich ergehen lassen. Der Keller in Saint-Lucy mit seiner menschenverachtenden Zusammenpferchung Markierter erinnert mich in der Nachschau an Konzentrationslager des Hitler-Faschismus. Den Internierten wurde damals gleich bei Einlieferung ins Lager ihre Nummer ins Fleisch gebrannt. Die Gasmasken, die die Ärzte tragen, verstärken diesen Eindruck noch, ebenso, daß ausgerechnet in diesem Sanatorium ein Patient mit dem Hinweis, ein Rendezvous mit dem (deutschen) Kaiser zu haben, abgeführt wird. Auch werden die Akten besser behandelt und sauberer gelagert als die Menschen, die dahinterstehen so regt sich der Chefarzt über zu lautes Tippen auf einer Schreibmaschine auf oder auch darüber, daß die Akten durcheinandergeraten sind, während ihm auf der anderen Seite die überaus unhygienischen und ekligen Zustände im Keller völlig am Arsch vorbeigehen (Zitat Michael).
Eine Parallele zum militanten (Rechts-)Extremismus sehe ich darin, daß die Frauen im Film nach dem Bekanntwerden des Todes ihrer Männer sofort einen Sündenbock suchen und in Catherine, die ohnehin Außenseiterin im Ort ist, auch schnell ein leichtes Opfer finden. Daß die Schuld für alles, was an Problemen in einer Gesellschaft auftaucht, besonders in schwierigen Krisenzeiten sozialen Randgruppen in die Schuhe geschoben wird, ist leider seit vielen Jahrhunderten ein häufig praktiziertes Mittel zur Beruhigung und Kanalisierung öffentlichen Unmuts.
Der dritte große Themenkreis, der in «Giorgino» kritisch beleuchtet wird, ist Kirche & Religion. Zum einen gibt es diese unentwirrbare Vermengung von Christentum und Aberglauben, die seinen Ausdruck z.B. in dem Glauben an die schützende Kraft der in der Kirche aufgestellten Kerzen findet oder in der Meinung, daß jedes Mal ein Soldat stirbt, wenn ein Glas zum Singen gebracht wird. Als der Krieg vorüber ist und die Frauen des Dorfes erfahren, daß alle Männer gefallen sind, wird ihnen die Machtlosigkeit ihres vermeintlich schutzgebenden Gottes und Seiner irdischen Vertretung, der Kirche, klar und sie beenden die Gebete des Pfarrers gewaltsam. Daß die angeblich gottgegebenen Regularien der christlichen Religion letztlich doch recht beliebig und von Menschen gemacht sind, wird z.B. deutlich, als der Pfarrer Catherines Mutter trotz ihres Selbstmordes ein kirchliches Begräbnis zuteil werden läßt und außerdem die Trauerzeit für Catherine willkürlich auf ein halbes Jahr verkürzt.
Michaels Ansatz, den Film in den Griff zu bekommen (März 1995):
«GIORGINO» oder: es ist gut für das Vaterland an Altersschwäche zu sterben
Ich möchte versuchen, den Film wie einen Traum zu deuten, weil er mir wie ein in Szene gesetzter Traum vorkommt. Und ein Traum, den man nicht deutet, sagt der Talmud, ist wie ein Brief, den man nicht öffnet. Mir kommt es in der Tat so vor, als habe mir der Regisseur mit dem Film Giorgino einen Brief geschrieben, den ich gerne lesen möchte. Wie nun läßt sich ein Traum deuten? Zur Traumdeutung haben sich schon viele Psychologen Gedanken gemacht, und es gibt bald so viele Theorien über Träume (und, daraus abgeleitet, Methoden zum Deuten von Träumen), daß man meinen könnte, in jeder Traumdeutungslehre fänden sich im Grunde nur die psychischen Voraussetzungen desjenigen Psychologen wieder, der die Theorie aufgestellt hat. Übereinstimmung gibt es nur sehr grundlegender Art: wer nämlich meint, ein Traum sei etwas, das man deuten könne, geht implizit davon aus, daß die Sinneseindrücke, die der Träumer wahrnimmt, nicht das sind, was sie zu sein scheinen. Wenn jemand beispielweise träumt, er würde sterben und sich am nächsten Morgen an diesem Traum erinnert, ist offensichtlich, daß der Traum nicht die (Wach-) Realität, wie sie ist, abgebildet hat, sondern etwas anderes. Wie dieses andere aussieht, was dieses andere ist darum ranken sich die Traumdeutungstheorien. Wer Träume deuten will, benötigt also Regeln beziehungsweise eine Abbildung, die den gesehenen Bildern, den gehörten Tönen und empfundenen Gefühlen der inneren Wirklichkeit eine Bedeutung in der äußeren Wirklichkeit zuordnet. Je enger Regeln und Theorie, desto enger wird dabei entsprechend die Deutung ausfallen.
Bei meiner Deutung gehe ich davon aus, daß die Trauminhalte überwiegend nichtsprachliche Symbole für reale Dinge, Sachverhalte, Einstellungen, Lebensumstände, Wahrheiten etc. sind. Weiterhin gehe ich davon aus, daß die Seele bewußte und nichtbewußte Inhalte enthält, obwohl ich das natürlich nicht wissen, sondern nur vermuten kann. Abgesehen von einigen Bezügen auf die Welt der Archetypen nach C. G. Jung versuche ich, die überwiegend nichtsprachlichen Symbole des Traumes für sich selbst sprechen zu lassen. Das kann ich am besten, wenn ich den Traum noch einmal vergröbert (abstrakter) nacherzähle und versuche, mich in die einzelnen handelnde Personen und oder Gegenstände hineinzuversetzen. Für mich stellen die in einem Traum handelnden Personen nur selten objektiv Personen in der Realität dar; meistens bilden sie Teile der eigenen Seele und deren Beziehungen zueinander ab. Damit verlagert sich mein Fokus der Betrachtung von der äußeren Realität hin zur inneren Realität und deren Wechselspiel. Ein interessantes Experiment ist es auch, probehalber einmal die äußere Realität wie einen Traum zu deuten (sich aber des Unterschiedes zwischen innerer und äußerer Realität bewußt zu bleiben!)
Aber jetzt zum Film. Zunächst meine etwas vergröberte Nacherzählung: Giorgio kommt als Kriegsversehrter ins Krankenhaus. Er sucht einige Waisenkinder, die er betreut hatte, bevor er in den Krieg zog. Er findet das Heim, in dem sich untergebracht waren, verlassen vor, erhält aber einen Hinweis auf ein Dorf, in dem sie sich angeblich aufhalten. In dem Dorf angekommen, hört Giorgio, daß die Kinder in einem Moor von Wölfen getötet worden seien. Als schuldig am Tod der Kinder betrachtet das Dorf die infantile Catherine, deren Mutter er stranguliert vorfindet. Giorgio verstrickt sich nach und nach mehr in seine Suche nach den Kindern, nach der Vergangenheit. Er besichtigt den Schauplatz des Unglücks, das Moor, in das er selbst kurz einbricht. In der Kirche sieht er eine Jesusfigur, die den Kopf verloren hatte. Giorgio begegnet auf seiner Suche dreimal typisch Märchen einem steinalt wirkenden Kind mit Laterne. Über das Schicksal der Kinder findet er auch durch Recherchen im Sanatorium St. Lucy nicht mehr heraus, dem von ihm dort gesuchten Dr. Degrâce allerdings begegnet Giorgio nach seinem Besuch in freier Wildbahn, in der Nähe des Waldes. Giorgio macht Catherine einen Heiratsantrag. Die ultrakonservativen und abergläubischen Dorfweiber, mit denen sich Catherine anläßlich der Beerdigung ihrer Mutter angelegt hatte, versuchen, Catherine umzubringen. Das mißlingt, weil Giorgio sie findet, bevor sie erfriert. Doch in betrunkenem Zustand flüchtet sie vor Giorgio. Sie rennt in den Wald und bricht ins Moor ein, vertraut aber schließlich Giorgio, der ihr gefolgt ist, und der sie nach ihrem Einbruch durch das Eis wieder aus dem Wasser herauszieht. Sie wollen miteinander schlafen, aber Catherine erschrickt wegen des Blutes ihrer Entjungferung und flieht vor Giorgio. Dieser irrt durch den Wald, sucht sie, begegnet zum dritten Mal dem steinalten Kind mit Laterne. Giorgio will die Karte, die er verloren hatte, vom Kind zurück, läßt sie aber dem Jungen, den seine Mutter mit dem Namen George zu sich ruft, und sinkt ohnmächtig in den Schnee. Ein paar Kinder finden ihn, meinen, er sei tot, wollen ihn von einer Kutsche überfahren lassen, aber die Kutscherinnen erkennen rechtzeitig den Körper im Schnee und bringt ihn in die Dorfschenke zurück, wo er einige Zeit in einem Dämmerzustand liegt und schließlich körperlich gesundet. Schließlich ist der Krieg aus, aber nur Marcel, der Sohn der Wirtin, kommt lebendig aus den Kämpfen mit der Armee zurück, alle anderen Männer des Dorfes sind gefallen. Wieder wollen die Dorfweiber Catherine einen willkommenen Sündenbock lynchen, weil sie in der Kirche aufgebracht die Lebenslichter der Männer ausgeblasen hatte. Sie ist aber inzwischen in St. Lucy eingeliefert worden, wo Giorgio sie befreit. Er bringt sie zum Haus der Degrâce-Familie. Gleich darauf findet Giorgio Catherine erhängt vor, kann sie aber noch vor dem Tod retten. Inzwischen verlassen alle Frauen sowie Pfarrer Glaise das Dorf. Die beiden finden Dr. Degrâce tot im Sumpf, lassen ihn in das wassergefüllte Grab seiner Frau untergehen. Sie sind die einzigen, die noch im Dorf geblieben sind. Auf dem Friedhof fallen sie einander in die Arme, hinter Giorgios Pferd fällt die Kirchentür in Schloß und Riegel. Ein Rudel Wölfe nimmt die Ebene ein und kommt auf Giorgio & Catherine zu. Die Schlußeinstellung zeigt das Pferd in der Kirche weihwassersaufend.
Das ist allerdings noch längst nicht verdichtet genug, um in diesem ersten Schritt die Essenz der Geschichte herauszukristallisieren. Also noch einmal, diesmal noch etwas knapper: Giorgio, Kriegsinvalide, kommt von der Front ins heimische Hinterland und sucht nach seinen Waisenkindern. Sie sind nicht mehr in dem Heim, in dem er sie verlassen hatte. Er erfährt ihre letzte Adresse und daß alle im Moor umgekommen sind. Er findet Catherine, eine kindgebliebene Frau, die die Kinder bis zuletzt betreut hatte und bei dem schrecklichen Ereignis zugegen war. Auf seiner Vergangenheits-Spurensuche begegnet Giorgio dreimal einem unheimlichen Führer mit Laterne, und zwar immer in der Nähe des Waldes. Obwohl Catherine im Verdacht steht, die Kinder getötet zu haben, versucht Giorgio, sich mit ihr zu vereinigen. Er rettet sie aus der Nervenheilanstalt, will sie sogar heiraten. Als der Krieg zu Ende gegangen ist, verschwindet das ganze unheimliche Szenario, die Dorfbewohner verlassen ihre Heimat, der gesamte Problemkomplex löst sich auf, stirbt.
Schon besser, schon deutungsfähiger, aber immer noch nicht prägnant genug. Wie würde man den Filminhalt widergeben, wenn man ihm einem Bekannten in einem einzigen Satz schildern wollte? Ein Versuch: Ein Kriegsinvalider, der vor Kriegsausbruch Waisen betreut hatte, kommt von der Front heim und sucht seine Waisen, stellt fest, daß sie alle in einem gräßlichen Unglück ums Leben gekommen sind, findet aber glücklicherweise ihre letzte Betreuerin, in die er sich verliebt und die ihm nach den Grausamkeiten des Krieges eine kindliche Sicht der Welt zurückgibt.
Eine noch kompaktere, abstraktere Nacherzählung, die schon fließend zur eigentlichen Deutung überleitet, ist die folgende: Ein ehemaliger Soldat sucht nach seiner verschütt gegangenen Kindheit, und findet sie, allerdings anders als erwartet, gleichzeitig mit dem Ende des Krieges wieder.
So, das ist knapp genug, nun können wir uns an eine erste Deutung wagen. Ob die Deutung stimmt, erkennen wir dann daran, ob die vielen Details von Peters wesentlich ausführlicheren Nacherzählung die Deutung abrunden, in die Deutung hineinpassen, oder nicht. Ich gehe davon aus, daß alle Figuren und handelnden Personen, wie in Träumen häufig der Fall, Personen in dem Träumer selbst sind, also eigene, vielleicht abgesplitterte, Persönlichkeits-Teile. In dieser Sicht sucht ein Soldat der Soldat schlechthin? nach seiner eigenen, durch die unmenschlichen Barbareien des Krieges verwaisten, Kindheit. Vielleicht war er selbst innerlich noch ein Kind, als er durch falsch verstandenen Patriotismus gezwungen wurde, für das Vaterland in den Krieg zu ziehen und fremde Menschen zu töten. Von der Front der Konflikte kommt er angeschlagen zurück (seine Lunge ist beschädigt; er kann nicht mehr mit dem vollen Volumen atmen, und das, wo das Atmen doch die Lebensfunktion überhaupt ist. Einen Lungenflügel hat er eingebüßt die Hälfte seines Lebens!, seine Kindheit. Der Traum kreist in einer Art Spiralenbewegung immer wieder um ein und denselben Sachverhalt er beleuchtet jeden Aspekt auf mehreren Ebenen, selbstähnlich, formt nach und nach in seiner Zerrissenheit ein fraktales Abbild des Träumenden: der Traum ist ganz fraktal.)
Räumlich gesehen kommt der Soldat von der Front, der äußersten, vorgeschobenen Kampflinie, ins Hinterland zurück im Traum ist eine räumliche Verschiebung oft Symbol für eine zeitliche Entwicklung: dieses Hinterland, seine Heimat, aus der er stammt, symbolisiert Giorgios eigene Vergangenheit, seine Kindheit, in die er forschend eindringt. Und wie der zerschossene Lungenflügel schon anzeigt, ist dieser Teil seines Lebens auf der Flucht vor dem heranrückenden feindlichen Heer umgekommen. Giorgio bleibt nur noch übrig, so gut es eben geht Spurensuche zu betreiben. Er findet immerhin den ehemaligen Arzt der Kinder, inzwischen der realen Welt etwas entrückt, und die ehemalige Betreuerin der Kinder, Catherine (grch. die Reine) wieder. Catherine hat sich ein unschuldig-kindliches Gemüt bewahrt (vgl. Mylène Farmers Lied »Désechantée«, in dem sie singt: »Je voudrais retrouver linnocence« ich möchte die Unschuld wiederfinden), mit leicht neurotisch wirkender Launenhaftigkeit allerdings. Selbst als Frau nuckelt sie noch an der Brust der Haushälterin, weiß nichts von Sex und Entjungferung und auch nicht, wie man Babys macht. Giorgio, für den Catherine die letzte ansprechbare Verbindung mit seiner Kindheit darstellt, will sich mit ihr vereinigen. Es scheint, als sei Catherine eine Art Kondensat aus allen seinen eigenen Kindheits-Erfahrungen, ein zweiter, weiblicher Giorgio, der isoliert von dem personalen Anteil des ganzen Giorgio großgeworden ist. Giorgio stellt sich nun die Herausforderung, diesen vergessenen, verwaisten Teil seiner selbst mit seiner bewußten Einstellung, mit Giorgio also, wiederzuvereinigen, seine Psyche zu re-integrieren. Dieses Wagnis gelingt ihm erst in der Schlußszene auf dem Friedhof, als er an sie gelehnt mit ihr auf dem Boden hockt und zu guter letzt eine kindliche Perspektive zurückgewinnt: er sieht die Wölfe, die sonst nur die Kinder sehen, über die Ebene ausschwärmen und auf sie beide zukommen.
Bis zu dieser Wiedervereinigung ist allerdings noch einiges zu tun. Es ist beispielsweise zu klären, welche Rolle denn der Abbé, der Abt Glaise, bei der ganzen Angelegenheit spielt. Er symbolisiert den menschlichen Anteil der Institution Kirche, die Bodentruppe des lieben Gottes, sozusagen. Daß das Wort Truppe gar nicht so abwegig ist, beweist die Untätigkeit der Kirche, die den Krieg nicht verhindern wollte oder konnte. Sie hat sich den herrschenden Machtverhältnissen untergeordnet und ist wie beispielsweise während des Krieges in Nazi-Deutschland zu einem propagandistischen Verlautbarungsmedium der Militärs verkommen. Wir kaputt, zerris sen die Kirche ist, zeigt sich bildhaft im Riß, der durch den Jesuskopf läuft. Obwohl Abbé Glaise (schon das Wortspiel ist sehr hübsch: französisch Kirche = eglaise, hier: »Abb églaise«) wieder versucht, den Kopf, den Sitz des Gehirns, des rationalen Denkens, wieder anzukleben, kommt der Kopf mehrfach abhanden; einmal wird er sogar in einer Badewanne unter Wasser gefunden. Wasser symbolisiert in Träumen häufig das Meer, Bild für das kollektive Unbewußte. Das religiöse Denken ist hier also im kollektiven Unbewußten, dem Massenwahn des Krieges, untergegangen. Das Einbrechen in zugefrorene Gewässer ist ein durchgängiges Leitmotiv des Films Giorgio stößt in eigene unbewußte Persönlichkeitsschichten vor.
Die Jesusfigur ist nie wieder ganz zu bekommen, sie ist zerbrochen, und mit ihr die Aufrichtigkeit und die Autorität der Kirche. Eine Kirche, die nicht in der Lage ist, eine Katastrophe wie diesen Krieg zu verhindern, hat keinen Anspruch auf Führung oder Seelsorge mehr anzumelden. Der Verfall überkommener Sitten und Gebräuche zeigt sich auch in der Doppelmoral des Abbé: eigentlich muß Catherine ein Jahr um ihre Mutter trauer, aber plötzlich genügt auch ein halbes Jahr, halt, wies gerade paßt. Damit ist der Bruch mit zwei mächtigen Ideologien im Traum durch zwei eindrucksvolle Bilder dokumentiert (> »Désenchantée« vom Album »Lautre
«). Es ist übrigens bezeichnend, wie lebhaft der Abbé zu schildern vermag, welcher Ausdruck auf den Gesichtern der Kinder gelegen hat, als sie von den Wölfen gerissen wurden:
als hätten sie den Leibhaftigen gesehen. Das kann wohl nur jemand, der den Leibhaftigen selbst schon einmal zu Gesicht bekam
Die Kirche als Handlanger des Militärs findet sich noch einmal in der Szene, in der die Namen der Toten aus dem Dorf zur plärrenden Marseillaise heruntergebetet werden. Abbé Glaise, die Kirche allgemein, demonstriert ihre allumfassende Ohnmacht.
Wenn nun die traditionellen, ideologie-getragenen Autoritäten und Weg-Weiser nicht mehr zur Verfügung stehen, wer zeigt Giorgio dann den richtigen Weg? Im Traum ist es ein kleines Männchen mit Laterne, das aussieht wie ein steinaltes Kind. Da bei der Beschäftigung mit den inneren Erlebnisse die Kirche die Segel gestrichen (voll) hat, bleibt noch die psychologische Ebene der Betrachtung: Giorgio findet einen Psychopompos, einen Seelenführer in dem unheimlichen Kind. Der Führer nimmt Giorgios Landkarte an sich raubt ihm sozusagen das Verzeichnis der alten, eingefahrenen Wege , und letztendlich findet Giorgio, durch eine seltsame Magie des Traumes, zu seiner Kindheit zurück. Das Land, die räumliche Ausdehnung, ist hier wieder Symbol für eine zeitliche Entwicklung, eine Timeline: das Kind mit der Laterne führt ihn sicher seine Vergangenheit zurück. Im Film gibt es eine Szene, in der dieses Kind von seiner Mutter gerufen wird das gibt die Richtung an, in die sich Giorgio entwickelt: eine Regression bis in die frühesten Tage. Regressionen sind, wenn unkontrolliert und verselbständigt ablaufend, eine gefährliche Sache, da das Individuum im Strom der Infantilisierung untergehen kann, wenn das Bewußtsein nicht in der Lage ist, mit dem Bilder- und Symbolausstoß des Unbewußten Schritt zu halten. Diese Traumbilder sind Leitbilder, die einer extremen Einstellung des Bewußtseins so suggestiv wie möglich entgegenwirken möchten, mithin also selbst so etwas wie ein Seelenführer sind: der Traum deutet sich selbst.
Sehr eindrucksvoll ist auch, wie der Traum mit der Psychiatrie umspringt: das Sanatorium St. Lucy (heilig+Licht, was für ein zynischer Name!, daher stammt auch Luzifer: die Hölle für die Eingelieferten) wird sehr bissig in Szene gesetzt: der Traum seziert das Gedanken-Gebäude (!) einer weiteren Ideologie, der Psychiatrie nämlich mit eindrucksvollen Bildern: im Keller (in dem, einem Sprichwort zufolge, viele Menschen Leichen haben), im Fundament der psychiatrischen Weltanschauung, suhlen sich die Menschen wie die Tiere im Dreck, herrschen barbarischste Zustände. Dort landen die Unheilbaren, das heißt: die Fälle, bei denen sich das System blamiert, weil es sein Versprechen an diesen Menschen nicht einhalten kann: es kann sie nicht heilen, schon gar nicht durch Kaltwasser-Dauerberieselung. Wie wenig sich die Verrückten im Keller von denen im weißen Kittel unterscheiden, zeigt der Film sehr humorig: nur an einem Wundmal um den Hals. Außerdem sind die Akten durcheinandergekommen, man steht ärztlicherseits etwas auf dem Schlauch. Wie peinlich!
Mit der Überwindung der inneren Widerstände in Form totalitärer, ideologischer Denkmuster endet der Krieg, und Giorgio gelingt es endlich, Catherine heimzuführen. Als er ihr seinen Heiratsantrag macht, fragt sie übrigens ungläubig: for real? ja, für die Realität vereinen sich die beiden Teile von Giorgio neu, um in der bewußten Wirklichkeit , mit der Last der Vergangenheit und allem Blutvergießen, leben zu können, einen neuen Anfang zu machen. Am Ende des Traumes sind die beiden allein aber ein neues Leben in ebenso neu- und wiedergewonnener Einigkeit, liegt vor ihnen. Catherine ist noch lange nicht erwachsen, aber ein Anfang ist gemacht. Sie wird noch viel Zeit brauchen, um mit Giorgio auch körperlich wirklich Eins zu sein, aber sie rennen immerhin schon nicht mehr voreinander weg, sie sind sich nah.
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