Lebenslauf von Mylène Farmer
(Stand Oktober 1990)

Übersetzung des Kapitels «Portrait avec retouches» (S. 8-17) aus dem Buch «Ainsi soit-elle» von Phillipe Séguy, © Publication Jean-Pierre Taillander, 1991

(Übersetzung durch Peter Marwitz. Kleine Anmerkung: Da der Herr Séguy einen teilweise unglaublich phrasendrescherischen, geschwätzigen Stil am Leibe hat, war ich so frei, sein Gelaber zu kürzen bzw. teils ganz wegzulassen und mich hauptsächlich auf Mylènes Aussagen zu konzentrieren. Das steigert die Lesbarkeit und auch den Informationsgehalt enorm, glaubt mir! :–))

nbestritten, vor allem anderen war die Kindheit. Mylène Farmer wurde am 12. September 1961 in Montréal, Kanada, geboren; sie hat drei Geschwister (eine ältere Schwester und zwei Brüder). Ihre Eltern sind Franzosen, die für einen begrenzten Zeitraum nach Kanada übersiedelten, weil ihr Vater Ingenieur für Brücken- und Straßenbau war und sich dort in der Region der Salzseen mit der Konstruktion des Staudammes von Manicuagan befaßte.

Die ersten Erinnerungen von Mylène: „Der Ahornsirup, eine alberne, aber süße Erinnerung! Der tiefe Schnee, der alles bedeckte; meine erste Schule, die «Ecole Sainte-Marcelline», geführt von Schwestern; ein rötliches Eichhörnchen, das mir über den Weg lief, und das ich besorgt in Pflege nahm und in einem Faß auf einem kleinen Boden unterbrachte. Bis zum Alter von 8 Jahren erinnere ich mich praktisch an nichts anderes; man muß sich die Frage stellen, wieso, aber darauf kann ich nicht antworten.”

Nach Abschluß der Staudamm-Konstruktion kehrten Mylène und ihre Familie nach Frankreich zurück. „Das war ein wirklicher Bruch, ein Wendepunkt, ein gewaltiger und unauslöschlicher Schock; mein Verhältnis zu den Menschen war vollkommen verändert, anders. Kanada ist ein begrenzteres, eingeschränkteres Land, man fühlte sich wie im Winterschlaf, stärker geschützt, argloser.”

Mylène begann nun zunehmend in Konflikt und Streit mit den sie damals umgebenden Menschen zu geraten. „Sehr früh war ich auf der Suche nach einer anderen Sache; anderswo, heute, empfinde ich es als schmerzhaft, wenn jemand einem Kind Leid zufügen kann. Mein Identitätsproblem rührte damals auch daher, daß ich meinen Körper/mein Äußeres nicht richtig akzeptieren konnte; ich glaube, daß ich mich früher gehaßt habe. Aber, und das war das Paradoxe, dieses Gefühl trieb mich vorwärts. Diese Uneinigkeit mit meiner Physis führte mich schließlich dazu, zu handeln. Schon damals haßte und verabscheute ich die Schule, selbst wenn ich niemals zu spät kam! Ganz im Gegenteil: Um 7 Uhr 30 – die Schule öffnete erst um 8 Uhr 30 – stand ich bereits vor dem geschlossenen Gitter. Ich war allein, es war niemand sonst dort, aber diese Arbeitsweise war schon immer die meinige. Ich will das Leiden, das Unangenehme, den Schmerz überrunden bzw. hinter mir haben. Das «Nichts» macht mir sehr viel mehr Angst als das «Schlechte/Böse». Das Böse/Schlechte, das kann auch der Anblick des/der Anderen sein. So habe ich häufig gesagt, daß die Kamera nicht meine Freundin war.”

Mit fünfzehn Jahren will Mylène sich äußern und die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, kann es aber noch nicht angemessen zeigen, darbieten. „Ich habe dann versucht, zu schummeln, zu lügen, indem ich die Gebiete bevorzugte, in denen ich glaubte, mich am einfachsten ausdrücken zu können.”

„Um meinem Vater etwas zu beweisen, der unbedingt wollte, daß ich «gut gedeihe» und mich entfalte”, wählte sie das Reiten. Der «Club de Porchefontaine», wo Mylène von ihrem zehnten Lebensjahr an regelmäßig aufstieg bis sie professionelles Niveau erreichte, befindet sich bei Versailles. Das Verhältnis von Mylène zur Reitwelt ist ein besonderes: „Zu Pferde, das ist wie eine Herrschaft, eine Macht, die man ausübt; man fühlt sich stark, einflußreich, was ganz sicherlich eine Verlockung ist... Aber letztlich, am Ende ist es das Tier, das stark ist! Doch man ist kühn, frei. Es ist phantastisch, sich mit einem solchen Tier zu verbünden, das so schön und edel ist. Für mich ist es leichter, mit Tieren zu leben.”

Nach nur zwei Tagen im Abschlußjahrgang des Gymnasiums „habe ich mich ganz einfach (aus der Schule) verabschiedet [den Kram hingeschmissen]”. Zweite große Veränderung: das Theater. Mylène besuchte die Kurse von Daniel Mesguich. „Ich blieb dort vier Monate, tief erschüttert von der Arglist und den Kniffen, die hier entwickelt und dargeboten wurden. Ich habe nichts als Eitelkeit, Anmaßung und Verrenkung gesehen. [Da Spielen für mich auch ein zeitweises Entkommen aus der Realität ist, da ich meine Persönlichkeiten, meine Rollen benötige, kann ich letzten Endes nichts anderes als das Leben spielen. Der Schauspieler gebraucht mindestens 80% seiner eigenen Substanz. Der menschliche Körper ist eine großartige Sache. Infolge einer geheimen Alchimie ist es nötig, alles (aus dem Körper) herauszuholen – und zusammen mit seinem Spott, seinen Ängsten, kann man solcherart etwas Wertvolles und Seltenes erschaffen.] Ich war Verfechterin einer anderen Sache (als der, die in den Kursen von Mesguich vertreten wurde). Meine Gegenwart wurde dort kaum bemerkt und wahrgenommen!”

„Es erwies sich als äußerst wichtig für mich, daß ich für mich selbst die Verantwortung übernahm, also mein Leben selbst in die Hand nahm. Ich besitze einen Stolz, den ich für fürchterlich halte. Ich wurde allein mit dem Leben konfrontiert, habe aber niemals Geld von meiner Familie verlangt.”

Für Mylène begann die unvermeidliche Serie öffentlicher Castings. „Das Leben weist in schwierigen Momenten immer sehr deutlich auf Auswege hin, selbst wenn manche Augenblicke lieber schnellstens vergessen werden sollten... Man verschloß mir dennoch nicht die Türen, und das ist sehr wichtig.” Diese „Periode des Herumirrens und der Suche” sollte von ihrem 18. bis zum 21. Lebensjahr dauern. „Ich hatte in dieser Zeit einen anderen Professor der dramatischen Künste, von dem ich mir wertvolle Erinnerungen bewahrt habe. Sein Benehmen und Auftreten war ungewöhnlich; er war für mich eine Art «geistiger/spiritueller Vater»! Er hat mir in diesem Abschnitt meines Lebens viel bedeutet.”

Mylène Farmer bearbeitete und spielte unter anderem die Rollen von Célimène, von Lucrèce Borgia, von Elvire in Don Juan und von Fando und Lis d’Arrabal (Angaben ohne Gewähr). „Ich wußte nie, was meine Familie von all dem hielt, auch wenn sie mich niemals daran gehindert hat, das zu machen. Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, werde ich darüber sprechen. Ich werde über meinen Vater sprechen, über meine Mutter, aber es ist noch zu früh, dies zu tun.”

In dieser Zeit begegnete sie Jérôme Dahan. „Er liebte leidenschaftlich das Schreiben und Komponieren; neben seinem großen schwarzen Klavier habe ich viele Stunden damit verbracht, zu singen und seiner Musik zuzuhören.” Jérôme ist es auch, der sie dann mit Laurent Boutonnat bekannt machte. Mit ihm schrieb er das Lied «Maman a tort» (Mylène Farmers erste Single, veröffentlicht 1984).

„In jenen Tagen wurde mir schließlich klar, daß die Stunde noch nicht gekommen war, um eine etwaige Schauspielerin zu werden. Ich mußte erst noch völlig andere Dinge (er)leben, um geben zu können.” Geben – ein Wort, das häufig in Mylènes Aussagen auftaucht. Sie träumt davon, noch mehr zu geben als in ihren Liedtexten, indem sie das Schreiben in Form von Novelle, Erzählung oder Roman ergreift. „Das Buch ist eine Vision; ich will es sehr stark, doch es scheint alles schon mit so viel Talent gesagt worden zu sein. Es ist sehr hochmütig, das zu sagen, nicht wahr! Aber ich denke, daß Sie mich verstehen... Ich benötige vielleicht eine fremde Hilfe, Unterstützung, warum nicht! Ich brauche den Sammler/'Zusammenführer' meiner Ideen; ich erinnere da an Lanza del Vasto, der seinen Freund Luc Dietrich zum Schreiben verführte und antrieb...”

Auf das Verhältnis von Mylène zu ihrem Publikum angesprochen, bekennt sie „daß es herrlich/erhaben ist; es besitzt eine wirkliche Fähigkeit, das zu verstehen, was ich tue. Es verwandelt/entwickelt mein Negativ zu einem Positiv; nochmals: es 'begreift' und das tut mir ganz eindeutig gut. Der Tournee, die ich duchführte und -lebte, wohnte allerdings eine erstaunliche Gegensätzlichkeit inne. Es gab nämlich auch niederschmetternde Momente, niederschmetternd im doppelten Sinne des Wortes, und zweifelsohne zu persönlich, um sie zu erzählen.”